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166 Die Geburt der Tragödie

„parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht“,
stellt sich eine Analogie zu dem aus dem (dionysischen) „Rausch“ hervorge-
henden (apollinischen) „Traum“ her. Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und
Vorstellung I, 3. Buch, § 52. Zugleich nimmt N. mit seiner Feststellung „Die
Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem“
eine Vorstellung Wagners auf. In seiner Schrift Oper und Drama beruft sich
Wagner auf „jene mütterliche Urmelodie, aus der einst die Wortsprache
geboren wurde“ (GSD IV, 142), und er fährt fort (S. 143): „Aus einem unendlich
verfließenden Gefühlsvermögen drängten sich zuerst menschliche Empfindun-
gen zu einem allmählich immer bestimmteren Inhalte zusammen, um sich in
jener Urmelodie der Art zu äußern, daß der naturnothwendige Fortschritt in
ihr sich endlich bis zur Ausbildung der reinen Wortsprache steigerte“.
49, 4 f. eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn] Achim
von Arnim und Clemens Brentano gaben Des Knaben Wunderhorn erstmals
1805-1808 heraus. Diese große Liedersammlung wurde alsbald zum lyrischen
Kanon der Romantik.
49, 6f. wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aus-
sprüht] Wörtliche Wiederaufnahme der Vorstellung von „Bilderfunken“ in GT 5
(44, 24 f.). Wie schon die Vorstellung der „Geburt“, die in den Titel der Tragö-
dienschrift einging, übernimmt N. von Wagner auch dessen mit Vorliebe ver-
wendete Metaphern „gebären“ (vgl. 107, 31) und „Mutterschooss“ (62, 9). Wag-
ner beschwört „jene höchste, gebärungskräftige Gefühlserregung“ (Oper und
Drama, GSD IV, 112), er nennt die Musik „das gebärende Element, das die
dichterische Absicht nur als zeugenden Samen aufnimmt“ (S. 155), er spricht
vom „Mutterelement, das das Empfangene nur gebären kann“ (S. 228), das
Orchester stellt er als „bewegungsvollen Mutterschooß der Musik“ dar und
sieht darin eine Analogie zum „Chor der griechischen Tragödie“
(S. 190). Wagner spricht sogar von der „Melodie, deren Gebärung wir jetzt
lauschen“ (S. 145). N. adaptiert Wagners Vorstellung, indem er schreibt: „Jene
Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaas-
sen der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d. h. der gesammten
Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas“ (62, 7-10). Vgl. auch 83, 24: „aus dem
Geburtsschoosse der Musik“. Zu dieser biologischen Metaphorik generell vgl.
NK 26, If.
49,11-13 und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apolli-
nischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan.] Die epischen Rhapsoden
(griech. rhapsodös, „einer, der Gesänge zusammennäht“) waren fahrende Sän-
ger, die bis in die klassische Zeit des 5. Jahrhunderts v. Chr. hinein öffentlich
die Epen vor allem Homers vortrugen. Platons Dialog Ion vermittelt einen Ein-
 
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