Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GT 7, KSA 1, S. 54-55 179

55,12-18 Freilich ist es ein „idealer“ Boden, auf dem, nach der richtigen Ein-
sicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie,
zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandel-
bahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste
eines flngirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Natur-
wesen gestellt.] Die Berufung auf Schiller ist in doppelter Weise unzutreffend
und sogar irreführend. Erstens: Nirgends in seiner Vorrede zur Braut von Mes-
sina: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie sagt Schiller, „der griechi-
sche Satyrchor“ sei der Chor der ursprünglichen Tragödie gewesen. Zweitens:
Es ist gerade nicht der Chor der antiken Tragödie, der in Schillers Traktat über
die (in N.s Worten) „wirkliche Wandelbahn der Sterblichen“ emporheben
sollte; im Gegenteil: in Schillers geschichtsphilosophischer Sicht gibt es bei
den Griechen noch nicht wie in der Moderne die Kluft zwischen Ideal und
Wirklichkeit, und deshalb schreibt er: „Der Chor war folglich in der alten Tra-
gödie mehr ein natürliches Organ, er folgte schon aus der poetischen Gestalt
des wirklichen [!] Lebens“ (Friedrich Schiller, Werke und Briefe, hg. von Otto
Dann u. a., Bd. 5: Dramen IV, hg. von Matthias Luserke, Frankfurt 1996, S. 286).
Dagegen konzipiert Schiller für die moderne Tragödie, in der Ideal und Wirk-
lichkeit nicht mehr übereinstimmen, den Chor als ein gegenüber der Wirklich-
keit distanzschaffendes, zum Ideal und zur „Freiheit“ erhebendes Kunstmittel.
N. setzt seine Zustimmung zu Schillers idealistischem Konzept und die
Polemik gegen den Realismus, der sich an der „wirklichen Wandelbahn der
Sterblichen“ orientiert, auf paradoxe Weise fort. Die Satyrn als Darstellung
einer ans Tierische grenzenden Triebhaftigkeit sind keineswegs „hoch empor-
gehoben“ über die Wirklichkeit wie die olympischen Götter, sondern im Gegen-
teil eine naturalistische Repräsentation, die aus den mit dem Dionysoskult
verbundenen Sexual- und Fruchtbarkeitsritualen resultiert, zu denen auch die
Phallos-Umzüge gehörten. Ein Wesensmerkmal des Satyrs ist der erigierte Phal-
los. Daraus eine in Schillers Sinn idealisierte Natur zu machen, ist ebenso
abwegig wie die Verwechslung des Fiktiven (55, 18: „fingirte Naturwesen“)
mit dem „Idealen“. Die Vorstellung von einem „Schwebegerüste“, die N.s spe-
kulative Aussagen beförderte, beruht auf einer alten, heute widerlegten These,
derzufolge der Chor sich auf einem besonderen Gerüst in der Orchestra befand.
Die Annahme, der Satyrchor sei der Chor der ursprünglichen Tragödie
gewesen, beruht auf der Kombination von Überlieferungen, deren Authentizi-
tät unsicher ist. Aristoteles schreibt in seiner Poetik (1449a 19-24): „Was ferner
die Größe betrifft, so gelangte die Tragödie aus kleinen Geschichten (ek piKpcov
pvOtüv) und einer zum Lachen reizenden Vortragsweise - sie hatte sich ja aus
dem Satyrartigen herausgebildet (Kai Ae^ecüc; ysAoiaq öid to ek aarvpiKov psTa-
ßaAsiv) - erst spät (öips) zu ihrer feierlich-großen Form, und als Versmaß
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften