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Stellenkommentar GT 8, KSA 1, S. 57-58 187

der Zeit zu einem eigenen Genre verselbständigten und zu einem Anhang der
Tragödien-Aufführungen wurden: „Indem nämlich die Tragödie von den
Gegenständen aus dem Kreise des Dionysos immer mehr auf heroische Mythen
überging und die barocke Manier des alten Bacchischen Spiels einer würdevol-
leren und ernsteren Behandlung wich, war der Chor der Satyrn nicht mehr an
seiner Stelle. Da man aber in Griechenland jede ältere Form der Poesie, welche
etwas Eigenthümliches und Charakteristisches hatte, neben den daraus hervor-
gegangenen Arten festzuhalten und für sich zu cultiviren pflegte: so wurde
nun ein besonderes Satyrspiel oder Drama Satyrikon neben der Tragödie
ausgebildet und mit derselben so in Verbindung gesetzt, daß in der Regel drei
Tragödien, mit einem Satyr-Drama zum Schlüsse, als ein Ganzes aufgeführt
wurden“ (S. 38). „Diese Absonderung und besondere Gestaltung des Satyr-
spiels wird von alten Grammatikern dem Pratinas von Phlius beigelegt“
(S. 39).
Das einzige ganz erhaltene Satyrspiel ist der Kyklops des Euripides. Von
anderen Satyrspielen, so von den Ichneutai des Sophokles, sind nur Fragmente
überliefert. Die zahlreichen Darstellungen auf Vasenbildern zeigen die Satyrn
nackt mit Schurz (meist Bocksfell), Phallos und Pferdeschweif, mit Glatze,
Bart, Stumpfnase, langen spitzen Ohren, gelegentlich mit Bockshörnern; der
Silen, der oft als Anführer von Satyrn erscheint, ist alt, weißbärtig, stumpfna-
sig und ganz behaart. N. übergeht diese genau fassbaren Züge und versteigt
sich schließlich zu der Behauptung: „Der Satyr war etwas Erhabenes und Gött-
liches“. Mit dieser Wertung der Satyrn und mit dem Lobpreis der sich bei ihnen
manifestierenden „geschlechtlichen Allgewalt der Natur“ adaptierte N. Wag-
ners geradezu enthusiastische Bejahung der Geschlechtsliebe. Damit wich
Wagner - und in seinem Gefolge N. - trotz aller Schopenhauer-Verehrung mar-
kant von Schopenhauer ab, der die Geschlechtsliebe der Tyrannei des Weltwil-
lens zuschrieb und deshalb Askese und „Heiligkeit“ hochhielt. Wagner blieb
mit seinem entschiedenen Bekenntnis zur sinnlichen Liebe den Jungdeutschen
und der linkshegelianischen Philosophie nahe - beide hatten ihn in seiner
früheren Zeit, noch bis zu seiner theoretischen Hauptschrift Oper und Drama
(1851), ebenso geprägt wie die revolutionäre Bewegung, der er sich angeschlos-
sen hatte. Wenn N. also in der hier zu erörternden Partie und in ihrem Kontext
die Satyrn intensiv - und nicht eben um historische Angemessenheit bemüht -
traktiert, so handelt es sich um einen weiteren Versuch, Wagners Anschauun-
gen durch den Rückgriff auf die Griechen sowohl zu illustrieren wie zu legiti-
mieren.
Der Hinweis auf die Leiden des Gottes geht auf Herodot V 67 zurück, wo
aber nicht von teilnehmenden Satyrn die Rede ist. Als „Weisheitskünder aus
der tiefsten Brust der Natur heraus“ möchte N. den Satyr generalisierend ver-
 
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