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Stellenkommentar GT 9, KSA 1, S. 67 201

Königs Amenophis III. (1403-1364 v. Chr.), die sich vor seinem Totentempel im
ägyptischen Theben befanden, begann die eine seit ihrer Beschädigung durch
ein Erdbeben TI v. Chr. bei Sonnenaufgang infolge der durch die Erwärmung
ausgelösten Vibrationen zu tönen. Vgl. Tacitus, Annalen 2, 61: „Memnonis
saxea effigies, ubi radiis solis icta est, vocalem sonum reddens“. Der Reise-
schriftsteller Pausanias verglich den Klang mit dem einer Leier-Saite. Seit dem
Besuch des Germanicus 19 n. Chr., von dem Tacitus berichtet (Annalen 2, 61),
galt dieses Phänomen lange als touristische Attraktion.
In der Literatur des 19. Jahrhunderts ist die vom Strahl der Morgensonne
zum Tönen gebrachte Memnonssäule ein beliebter Inspirationstopos. In
Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1815) heißt es: „Der Dichter [...]
besingt [...] die Welt, die wie Memnons Bild, voll stummer Bedeutung, nur
dann durch und durch erklingt, wenn sie die Aurora eines dichterischen Gemü-
tes mit ihren verwandten Strahlen berührt“ (Joseph von Eichendorff: Werke,
hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Bd. 2:
Ahnung und Gegenwart. Erzählungen, hg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte
Schillbach, Frankfurt 1985, S. 83). Lord Byron verwendet den Inspirationstopos
im 13. Gesang seines Don Juan (LXIV); auch Friedrich Rückert nimmt ihn in
seinem Liebesfrühling (Dritter Strauss, Nr. 75) auf: „Wie dein Blick das Blatt
berührt, / Fängt es an zu singen, / Und den Preis, der ihr gebührt / Hört’ die
Lieb’ erklingen. / Jeder Buchstab ist zumal / Memnonsäule worden, / Die
geküßt vom Morgenstral / Aufwacht in Akkorden“ (Gesammelte Gedichte von
Friedrich Rückert. Erster Theil, Frankfurt am Main 1843). Der vielgelesene
Schriftsteller Moriz Carriere, den auch N. zur Kenntnis nahm, schreibt in sei-
nem Werk Das Wesen und die Formen der Poesie. Ein Beitrag zur Philosophie
des Schönen und der Kunst, Leipzig 1854, S. 190 über den von seinem Gefühl
inspirierten lyrischen Dichter: „so sollen wir in der Subjectivität des Dichters
die Macht erkennen, welche in aller Fülle der Natur und der Geschichte nur
den Wiederschein ihrer eigenen Gefühle erblickt; aus seinem Auge entspringt
der Morgensonnenstrahl, der die Memnonsäule tönen macht [...] Sein Gefühl
singt er um das Echo im Herzen der Andern wach zu rufen“. Die Geschichte
von der tönenden Memnonsäule selbst erzählt das in zahlreichen Auflagen
verbreitete populäre Werk von Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Weltgeschichte für
gebildete Leser und Studirende, 7. Auflage, 1. Bd., Leipzig 1850, S. 205 f.: „Eine
besondere Erwähnung verdient die sogenannte Memnonsäule, eine kolos-
sale Statue [...] Die späteren Griechen - denn Herodot und Diodor wissen
nichts davon - erzählen, daß jene Säule bei den ersten und letzten Strahlen
der Sonne jeden Tages klagende Töne habe vernehmen lassen: Strabo und
Pausanias wollen sie selbst gehört haben. Diese Erscheinung, erst beobachtet,
seitdem ein Erdbeben die Säule zum Theil zertrümmert hatte, in der Römerzeit
 
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