Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GT 10, KSA 1, S. 71-72 211

Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und
nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass
diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwand-
lung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Indivi-
duation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches,
zu betrachten hätten.] In der Reinschrift, welche die Vorlage des Druckmanu-
skripts bildete, heißt es: „die Idee, die allein wahrhafte Realität hat und nur
in dieser Maske zur Erscheinung kommt, ist der leidende Dionysus der Myste-
rien, jener die Qualen der Individ(uation} an sich erleidende Held, der zugleich
,der Wilde4 und der ,wilde4 Gott heißt44 (KSA 14, 50). Der Bezug zu den dionysi-
schen Mysterien, die eng mit der Orphik zusammenhingen, und die spätere
neuplatonische Allegorese des Zagreus-Mythos sind für die Entstehung und
Entwicklung der griechischen Tragödie, N.s Haupt-Thema, ohne Belang; doch
zieht er diesen Mythos und seine allegorischen Ausdeutungen heran, weil er
darin seine eigene, von Schopenhauers Negativwertung des scheinhaften
„principium individuationis“ ausgehende Allegorisierung präfiguriert sieht.
Der Kern des Mythos von Dionysos-Zagreus (vgl. hierzu auch den Kommentar
zu 68, 14-18) besagt, daß Hera, die eifersüchtige Gattin des Zeus, die Titanen
anstiftete, das Dionysos-Kind in Stücke zu reißen, daß es dann aber durch
Zusammensetzen der Teile - entweder durch Apollon oder durch Athene -
wieder zur gestalthaften Einheit restituiert wurde. In der Vorstufe Die dionysi-
sche Weltanschauung heißt es (KSA 1, 559, 19 f.): „Der Mythus sagt, daß Apollo
den zerrissenen Dionysos wieder zusammengefügt habe“.
Besonders wichtig ist die von N. an anderer Stelle ausdrücklich genannte
Darstellung Plutarchs in seiner Schrift Über das E in Delphi (388 f-389a). Plut-
arch geht auf die Zerstückelung des Dionysos-Zagreus im Zusammenhang der
neuplatonischen Allegoresen ein. Er nennt sie „hintergründige Mythen“ (N.
spricht von „wundervollen“, d. h. von Wundern erfüllten „Mythen“). Plutarch
charakterisiert die kosmologische Deutung der Zerstückelung des Dionysos
und führt sie auf die Kategorien von Einheit und Vielheit zurück: Der Gott,
schreibt er, zerteile und verwandle sich „in Winde und Wasser, Erde und
Gestirne und die Geschlechter von Pflanzen und Tieren“ (ciq nvEvpotTa Kai
vötop Kai yqv Kai aorpa Kai cpvTtüv ^wcüv te yEvsoEiq). N. spricht von einer
„Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer“, also in die vier Elemente. In
NL 1870/1871, KSA 7, 7[123], 177, 21 f. übersetzt er genauer: „Umwandlung in
Luft Wasser Erde und Gestein Pflanze und Thier“ („Gestein“ ist wohl eine Verle-
sung von „Gestirn“ - äoTpa). All dies ist für ihn jedoch nur als mythologisch-
allegorische Äquivalenz der Philosopheme Schopenhauers interessant: Scho-
penhauers Urprinzip, der „Wille“, geht über in die Vielheit der Erscheinungen,
die das principium individuationis repräsentieren, aber nur, um sich als letzt-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften