220 Die Geburt der Tragödie
beginnt die Verfallsgeschichte, die N. zuerst am Mythos, dann an der Tragödie
selbst feststellen will und schließlich auf die gesamte „Cultur“ ausweitet. Die
,Cultur‘ hatte er schon bisher als Verlust naturhafter Ursprungsenergien begrif-
fen. Dieses Verfalls- und Spätzeit-Szenario, das sich hier bis zur Vorstellung
des „Sterbens“ steigert, bereitet auf die „Wiedergeburt“ vor, die N. in Kapitel 16
im Hinblick auf Wagner als „eine Wiedergeburt der Tragödie“
(103,13 f.) und in Kapitel 23, wiederum im Hinblick auf Wagner, als „ W i e d e r -
gebürt des deutschen Mythus“ (147, llf.) feiert.
74, 24 f. die spöttischen Luciane des Alterthums] Lukian (ca. 120-180 n. Chr.),
ein griechisch schreibender Satiriker, parodierte die überlieferten Mythen in
witzig-spielerischer Weise. N. interpretiert dies als Symptom für den Nieder-
gang des Mythos. In besonderer Weise dürfte er an Lukians Satire auf die
bizarre Geschichte von der Geburt des Dionysos aus dem Schenkel des Zeus
gedacht haben. Sie ist eine der ,Nummern4 in Lukians Götter-Gesprächen, die
Wieland übersetzte. N. hatte sich mit Lukian in seiner Studienzeit beschäftigt,
im Zusammenhang mit Arbeiten über die menippeische Satire. Er besaß Lu-
kians Sämtliche Werke in seiner persönlichen Bibliothek; sie weisen zahlreiche
Lesespuren auf.
74, 32 Was wolltest du, frevelnder Euripides] Mit dieser emphatischen Schluß-
partie bereitet das zehnte Kapitel das elfte vor, das die These verficht, Euripides
habe sowohl die Tragödie wie den ,Mythus4 ihrer ursprünglichen Kraft und
Würde beraubt und so ihren Niedergang herbeigeführt. Zur Vorgeschichte die-
ser negativen Wertung des Euripides in den Fröschen des Aristophanes und
bei August Wilhelm Schlegel vgl. NK 76, 34-77, 3. Auch das von N. während
der Arbeit an GT herangezogene Werk von Julius Leopold Klein: Geschichte des
Drama’s. Bd. 1: Geschichte des griechischen und römischen Drama’s betont in
dem großen Euripides-Kapitel (S. 403-512) die vielfach negative Bewertung des
Euripides, zugleich aber auch die große Zahl seiner Bewunderer. N. konnte
darin nicht zuletzt die aus den Auseinandersetzungen zwischen Bewunderern
und Kritikern resultierende Kampf-Szenerie finden. Im Bewußtsein dieser
schon bestehenden Konfrontation ergriff er hier selbst in kämpferischem Ton
Partei gegen Euripides.
75, If. der Affe des Herakles] Diese sprichwörtliche Redensart mit der Bedeu-
tung „sich prahlerisch verkleiden“ zielt auf die Verkleidung mit dem Löwenfell
des Herakles. Lukian weist ausdrücklich auf das Sprichwort hin, daß sich die
wahren Philosophen zu den falschen verhalten wie Herakles zu dem Affen,
der sich das Löwenfell des größten griechischen Helden umhängt. Lucian von
Samosata: Der Fischer oder die wieder auferstandenen Philosophen, in: Lucian
von Samosata, Sämtliche Werke, übersetzt v. C. M. Wieland, Erster Theil, Leip-
beginnt die Verfallsgeschichte, die N. zuerst am Mythos, dann an der Tragödie
selbst feststellen will und schließlich auf die gesamte „Cultur“ ausweitet. Die
,Cultur‘ hatte er schon bisher als Verlust naturhafter Ursprungsenergien begrif-
fen. Dieses Verfalls- und Spätzeit-Szenario, das sich hier bis zur Vorstellung
des „Sterbens“ steigert, bereitet auf die „Wiedergeburt“ vor, die N. in Kapitel 16
im Hinblick auf Wagner als „eine Wiedergeburt der Tragödie“
(103,13 f.) und in Kapitel 23, wiederum im Hinblick auf Wagner, als „ W i e d e r -
gebürt des deutschen Mythus“ (147, llf.) feiert.
74, 24 f. die spöttischen Luciane des Alterthums] Lukian (ca. 120-180 n. Chr.),
ein griechisch schreibender Satiriker, parodierte die überlieferten Mythen in
witzig-spielerischer Weise. N. interpretiert dies als Symptom für den Nieder-
gang des Mythos. In besonderer Weise dürfte er an Lukians Satire auf die
bizarre Geschichte von der Geburt des Dionysos aus dem Schenkel des Zeus
gedacht haben. Sie ist eine der ,Nummern4 in Lukians Götter-Gesprächen, die
Wieland übersetzte. N. hatte sich mit Lukian in seiner Studienzeit beschäftigt,
im Zusammenhang mit Arbeiten über die menippeische Satire. Er besaß Lu-
kians Sämtliche Werke in seiner persönlichen Bibliothek; sie weisen zahlreiche
Lesespuren auf.
74, 32 Was wolltest du, frevelnder Euripides] Mit dieser emphatischen Schluß-
partie bereitet das zehnte Kapitel das elfte vor, das die These verficht, Euripides
habe sowohl die Tragödie wie den ,Mythus4 ihrer ursprünglichen Kraft und
Würde beraubt und so ihren Niedergang herbeigeführt. Zur Vorgeschichte die-
ser negativen Wertung des Euripides in den Fröschen des Aristophanes und
bei August Wilhelm Schlegel vgl. NK 76, 34-77, 3. Auch das von N. während
der Arbeit an GT herangezogene Werk von Julius Leopold Klein: Geschichte des
Drama’s. Bd. 1: Geschichte des griechischen und römischen Drama’s betont in
dem großen Euripides-Kapitel (S. 403-512) die vielfach negative Bewertung des
Euripides, zugleich aber auch die große Zahl seiner Bewunderer. N. konnte
darin nicht zuletzt die aus den Auseinandersetzungen zwischen Bewunderern
und Kritikern resultierende Kampf-Szenerie finden. Im Bewußtsein dieser
schon bestehenden Konfrontation ergriff er hier selbst in kämpferischem Ton
Partei gegen Euripides.
75, If. der Affe des Herakles] Diese sprichwörtliche Redensart mit der Bedeu-
tung „sich prahlerisch verkleiden“ zielt auf die Verkleidung mit dem Löwenfell
des Herakles. Lukian weist ausdrücklich auf das Sprichwort hin, daß sich die
wahren Philosophen zu den falschen verhalten wie Herakles zu dem Affen,
der sich das Löwenfell des größten griechischen Helden umhängt. Lucian von
Samosata: Der Fischer oder die wieder auferstandenen Philosophen, in: Lucian
von Samosata, Sämtliche Werke, übersetzt v. C. M. Wieland, Erster Theil, Leip-