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222 Die Geburt der Tragödie

gegenstand seiner Dramen“ (S. 107). Und schließlich verurteilte er in dieser
Hinsicht besonders die „den weiblichen Rollen zugeteilte Wichtigkeit“ (S. 107).
Kapitel 11-15: Niedergang und „Tod“ der Tragödie
11. Kapitel
Hier beginnt eine Sequenz von Kapiteln, die ein Panorama des Niedergangs
entwerfen: eine Verfallsgeschichte. N. greift damit das zeitgenössische Thema
des Epigonentums auf (vgl. den ausführlichen Kommentar zu 75, 25-32), das
auch andere Frühschriften bestimmt und sich in den Spätschriften zur Dia-
gnose einer krankhaften Decadence ausweitet. Ein Hauptferment des Verfalls
ist für N. die aufklärerische Rationalität, die er in diesem Kapitel an Euripides,
im nächsten an Sokrates darstellt. Wagner hatte geschrieben, „der schnelle
Verfall der griechischen Tragödie“ sei darin „begründet“ gewesen, daß Euripi-
des nicht aus seinem „Gefühl unwillkürlich“, sondern mit seinem „Verstand
willkürlich“ verfahren sei (Oper und Drama, GSD IV, 145). Euripides und Sokra-
tes dienen somit als Exponenten einer allgemeinen Zeitverfassung. N. nimmt
offenkundig auch die „Wissenschaft“ und mit ihr die Rationalisierungstenden-
zen einer aufgeklärten Moderne sowie die von ihm selbst abgelehnte Bürger-
lichkeit des 19. Jahrhunderts ins Visier: eine zivilisatorische Alltäglichkeit und
Mittelmäßigkeit, die er verächtlich am Maßstab des „großen“ Menschen, des
ihm aus seiner Carlyle-Lektüre vertrauten Heldenkults und des „Halbgotts“ der
Tragödie (77, 17) mißt. Vollends kommt die Signatur des späteren 19. Jahrhun-
derts zum Vorschein, wenn im Zusammenhang mit Euripides mehrmals von
der „Masse“ die Rede ist (77, 22; 77, 26; 79, 19; 80, 7). Der Kult des „Ursprüngli-
chen“, das Interesse an der „Geburt“ der Tragödie sowie an einem als vorratio-
nal-schöpferisch aufgefaßten „Mythos“ ist das Gegenbild zu einer Welt des
Verfalls und einer spätzeitlichen Massenzivilisation.
Eine Quelle besonderer Art, aus der N. sogar Exzerpte anfertigte, waren
August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur.
Schon die leitende Idee in GT, die Herstellung einer Analogie zwischen Ver-
fallsphänomenen des 19. Jahrhunderts und der Zeit des Euripides, geht auf A.
W. Schlegels Darstellung zurück. Darin heißt es (S. 101): „Wir haben noch einen
besonderen Grund, die Ausschweifungen dieses Dichters ohne Schonung zu
rügen; nämlich, daß unser Zeitalter an ähnlichen Gebrechen krankt, als die
waren, welche dem Euripides unter seinen Zeitgenossen so viel Gunst, wenn
auch nicht gerade Achtung verschafften“. Zum großen Teil basiert Schlegels
Kritik an Euripides auf den Fröschen des Aristophanes und auf dessen polemi-
 
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