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260 Die Geburt der Tragödie

und daß die Ergetzung einer kindischen Neugierde das geringste sei, worauf
sie Anspruch mache. Er ließ seine Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevor-
stehenden Handlung eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen
konnte; und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht
sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen
sollte“ (Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von
Wilfried Barner u.a., Bd. 6: Werke 1767-1769, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt
1985, S. 422). Negativ urteilten dagegen wieder A. W. Schlegel in seinen Vorle-
sungen über dramatische Kunst und Literatur (Kritische Schriften und Briefe, hg.
von Edgar Löhner, Bd. V, Stuttgart 1966/67, S. 107 f.) sowie die Autoren der
philologischen Werke, die N. heranzog: Gottfried Bernhardy in seinem Grund-
riß der Griechischen Litteratur, 2 Bde, Halle 1836-45, Bd. II, S. 858 f., und Karl
Otfried Müller in seiner Geschichte der griechischen Literatur, Bd. 2, Kap. 25,
S. 150 f. Einen Überblick über die Diskussion zu den euripideischen Prologen
von der Antike bis zur Neuzeit gibt Hartmut Erbse: Studien zum Prolog der
euripideischen Tragödie, Berlin/New York 1984.
N. weist nicht darauf hin, daß der Prolog - im weiteren Sinn - keine dra-
matische Besonderheit oder gar Erfindung des Euripides ist. Aristoteles
bezeichnet in seiner Poetik (1452 b 19) als Prolog denjenigen Teil der Tragödie,
der dem Einzug des Chores vorausgeht. Euripides verfährt ähnlich wie Aischy-
los: bei beiden besteht die erste Szene des Prologs meistens aus der Einzelrede
eines Schauspielers. Sophokles dagegen eröffnet alle seine Stücke außer den
Trachinierinnen mit einem Dialog, aus dem sich die Voraussetzungen der Hand-
lung ergeben.
85, 33-86, 1 Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor: und was
nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich.] Dies ist eine markant
antiaristotelische Formulierung, denn mehrmals insistiert Aristoteles darauf,
daß die Tragödie die Nachahmung einer Handlung sei, und er pointiert die
Relevanz der Handlung mit den Worten: „Nun geht es [in der Tragödie] um
Nachahmung von Handlung, und daher vornehmlich von Handelnden“ (Poe-
tik, 1449b 36-37: „ecttiv te pippoiq npöt^scoq Kai öid TavTpv paAiora tcüv npaT-
tövtcüv“). Vgl. die genauere Ausführung, die N. noch in einer Anmerkung zu
seiner Spätschrift Der Fall Wagner zu diesem Thema gibt (KSA 6, 32). Das Zitat
dieser Anm. in NK 62, 22-26. Dem „Pathos“ als der großen Form der Leiden-
schaft widmet N. im Hinblick auf Wagner eine größere Partie im 9. Kapitel der
4. Unzeitgemäßen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth (KSA 1, 491 f.).
86,19-23 Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition und legte ihn
einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit
musste häufig den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen garan-
 
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