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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 85-86 261

deren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus nehmen] Nur in fünf der
siebzehn erhaltenen Stücke des Euripides spricht eine Gottheit den Prolog:
in der Alkesds (Apollon), im Hippolytos (Aphrodite), im Ion (Hermes), in den
Troerinnen (Poseidon) und in den Bakchen (Dionysos). Daß man einer solchen
göttlichen Person „Vertrauen schenken“ durfte, trifft nur auf den von N.
genannten „Verlauf der Tragödie“ zu, nicht aber auf die moralische Qualität:
in dieser Hinsicht gibt es keine Vertrauenswürdigkeit der Götter, die den Prolog
sprechen. Euripides stellt die Götter vielmehr immer wieder negativ dar, etwa
indem er ihnen maßlose und zerstörerische Rachsucht (z.B. Hera im Herakles,
Dionysos in den Bakchen) zuschreibt und sie als ungerecht erscheinen läßt.
Damit beweisen sie nicht nur ihre allen menschlichen Maßstäben enthobene
Macht; sie werden auch unter moralischem Gesichtspunkt als „Götter“ in Frage
gestellt.
N.s Aussage, daß die Götter, die im Prolog den Verlauf der Tragödie ange-
ben, damit „jeden Zweifel an der Realität des Mythus [d. h. der „Sage“] neh-
men“, ist insofern problematisch, als sich mit dem Mythos (der Sage) kein
Realitätsanspruch verbindet und die Mythen trotz eines fortbestehenden
Grundmusters von den Tragödiendichtern fortwährend aus- und neu gestaltet
wurden. Euripides provoziert mit seiner Neugestaltung den modern-aufgeklär-
ten Zweifel und führt die „Götter“ ad absurdum. Aus der Annahme, Euripides
komme es auf die „Realität“ des Mythos an, ergibt sich auch die alsbald fol-
gende (problematische) Analogisierung mit Descartes’ Argumentation.
86, 23-26 in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der empirischen Welt
nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unfähigkeit
zur Lüge zu beweisen vermochte.] Schopenhauer schreibt in den Parerga und
Paralipomena I (Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen):
„Dieser [Cartesius] hatte die Realität der Aussenwelt auf den Kredit Gottes
angenommen; wobei es sich freilich wunderlich ausnimmt, daß, während die
andern theistischen Philosophen aus der Existenz der Welt die Existenz Gottes
zu erweisen bemüht sind, Cartesius umgekehrt erst aus der Existenz und Wahr-
heit Gottes die Existenz der Welt beweist: es ist der umgekehrte kosmologische
Beweis“ (Frauenstädt, Bd. 5, S. 5). Schopenhauer bezieht sich auf Descartes’
Meditadones de prima philosophia.
86, 26-29 Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am
Schlüsse seines Drama’s, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu
stellen; dies ist die Aufgabe des berüchtigten deus ex machina.] Hier setzt N.
zunächst die problematische Analogisierung der Intention des Euripides mit
derjenigen von Descartes fort. Dies ist schon insofern irreführend, als der deus
ex machina keine moralische Instanz ist wie der cartesische Gott, der sich
 
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