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262 Die Geburt der Tragödie

durch seine „Wahrhaftigkeit“ auszeichnet. Der in mehreren Tragödien des Euri-
pides am Ende des Geschehens erscheinende deus ex machina, dessen plötzli-
ches Eingreifen sich weder aus dem äußeren Handlungszusammenhang noch
aus dem inneren Motivationsgefüge ergibt, beendet die Handlung abrupt. Er
bereinigt eine verfahrene Situation und verhindert insbesondere durch sein
göttlich-wunderbares Eingreifen die aus dem bisherigen Handlungsverlauf
meistens folgende Katastrophe. N. übergeht die Tatsache, daß das Erscheinen
des deus ex machina gerade nicht rational zu begründen ist, er verkennt auch
die sowohl tragisch-ironische wie pessimistische Funktion dieses dramaturgi-
schen Verfahrens, weil dies seiner übergeordneten Strategie zuwiderliefe, Euri-
pides als rationalistisch-optimistischen Aufklärer darzustellen. Die pessimisti-
sche Lesart, die der deus ex machina provoziert, lautet: Es müßte sich schon
das ganz und gar Unwahrscheinliche ereignen, damit doch noch ein gutes
Ende zustande käme. Von seinem Verständnis aus notierte N. in der Zeit, in
der er an GT arbeitete (NL 1871/1872, KSA 7, 14[2], 375, 11-13): „Der deus ex
machina übersetzt die metaphysische Lösung ins Irdische. Damit ist
die Tragödie zu Ende“.
86, 32-87, 5 So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seiner
bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige Stel-
lung in der Geschichte der griechischen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein
kritisch-productives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang
der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren erste Worte
lauten: „im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ord-
nung.“] Erkenntnis und Bewußtsein sind für N. gänzlich negativ besetzt. Im
Hinblick auf den „Sokratismus“ des Euripides wertet er dessen „bewußtes“
künstlerisches Schaffen in der Abhandlung Socrates und die Tragoedie, einer
Vorstufe zu GT, als Zeichen des Niedergangs: „man wird begreifen, wie selbst
ein so großes Talent wie Euripides gerade bei dem Ernst und der Tiefe seines
Denkens um so unvermeidlicher in die abschüssige Bahn eines bewußten
künstlerischen Schaffens gerissen werden mußte“ (KSA 1, 541, 31-542, 1). Die
Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne beginnt mit den
programmatischen Sätzen: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllo-
sen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein
Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmü-
thigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte4: aber doch nur eine
Minute“ (KSA 1, 875, 2-6). Dagegen betont N. in enger Anlehnung an Schopen-
hauer, an Wagner und an Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten
den höheren Wert des Irrationalen und Unbewußten (zum Unbewußten vgl.
den Überblickskommentar zu GT 3, S. 138 f., und NK 120, 14-32). In einer Notiz
 
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