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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 86-87 263

formuliert er antithetisch: „Weltvernichtung durch Erkenntniß! Neuschaffung
durch Stärkung des Unbewußten!“ (NL 1869/1870, KSA 7, 3[55], 75, 21 f.).
In der hier zu erörternden Stelle setzt sich N.s Versuch fort, Euripides pri-
mär ein rationalistisches Denken und erst sekundär ein dichterisches Talent
zuzuschreiben, das dann nur noch der „Wiederhall“ seiner rationalen Erkennt-
nisse gewesen sei. Zugleich verfolgt er weiterhin das Ziel, Euripides in den
Zusammenhang der um 430 v. Chr. voll einsetzenden griechischen Aufklärung
zu stellen, als deren Exponenten er bisher Sokrates und nun auch Anaxagoras
(500-428 v. Chr.) darstellt, der ein Hauptvertreter der naturwissenschaftlichen
Aufklärung war. Bis zu dieser Zeit glaubten die Griechen, die Himmelskörper
seien göttliche Wesen, und sie verdammten die astronomische Forschung als
Frevel gegen die Götter. Als Anaxagoras erklärte, die Sonne sei eine feurige
Masse, machten ihm die Athener den Prozeß wegen Gottlosigkeit (Asebie), wie
aus anderen Gründen später auch dem Sokrates. Nur mit Mühe konnte ihn
sein Freund Perikies vor dem Tod retten, indem er sich den Anklägern entge-
genstellte. Diogenes Laertius, dessen Werk N. sehr gut kannte, weil er dazu
eine Quellen-Untersuchung veröffentlicht hatte, berichtet über den Prozeß
(2, 12), Anaxagoras „sei von Kleon wegen Gottlosigkeit angeklagt worden, weil
er die Sonne für eine glühende Steinmasse erklärt habe; nur durch das Eintre-
ten seines Schülers Perikies für ihn sei er mit einer Strafe von fünf Talenten
und Verbannung davongekommen“ (Diogenes Laertius 2, 12). Diesen histori-
schen Kontext verschweigt N., weil er sonst seine aufklärungsfeindliche Dar-
stellung nicht hätte durchhalten können.
Der enge Zusammenhang zwischen Euripides und Anaxagoras geht auf die
entsprechende Überlieferung zurück. Gottfried Bernhardy greift sie in seinem
von N. benutzten Grundriß der Griechischen Litteratur (Zweiter Theil, Halle
1845) auf und konstatiert S. 835: „kein Philosoph hatte seinen Geist [den des
Euripides] so mächtig ergriffen und zur ernsten Forschung angeregt als A n a -
xagoras [...] Dem Anaxagoras verdankt er nun nicht bloß eine positive
Summe der Naturphilosophie und den ersten Anstoß zur religiösen Skepsis,
sondern auch einen klaren Blick in die intellektuellen Ordnungen“. Daß Euripi-
des nicht nur zu den Anhängern, sondern sogar zu den Schülern des Anaxago-
ras gerechnet wurde, konnte N. wiederum bei Diogenes Laertius lesen. „Euripi-
des, sein Schüler“, heißt es bei ihm (2,10), habe „in seinem Phaeton die Sonne
einen goldenen Klumpen genannt“. Auch sonst war Anaxagoras als Lehrer des
Dichters allgemein bekannt, vgl. Cicero, Tusc. IV, 14; Vitruv. Praef. VIII. Euripi-
des selbst verewigte ihn in der Alkestis, V. 903. Die entsprechende Darstellung
bietet der von N. benutzte Grundriß der Griechischen Litteratur von Gottfried
Bernhardy, Zweiter Theil, Halle 1845, S. 837.
Das Anaxagoras-Zitat „im Anfang war alles beisammen; da kam der Ver-
stand und schuf Ordnung“ entnahm N. der Darstellung des Diogenes Laertius
 
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