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272 Die Geburt der Tragödie

sene „alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele“, die
Sokrates im Verein mit Euripides angeblich untergraben habe, wird ja dem
historischen Sokrates mit großer Bestimmtheit zugeschrieben. Tapferkeit und
Zivilcourage gehören zu seinen in der Überlieferung immer wieder hervorgeho-
benen Charakterzügen, die N. verschweigt. Sokrates zeichnete sich in den
Schlachten beim Delion (424) und von Amphipolis (422) durch Tapferkeit aus,
wie auch Platon den Alkibiades im Symposion berichten läßt (22Od-221c). Als
vorsitzender Prytane verteidigte er im Rat der 500 (Boule) die nach der See-
schlacht bei den Arginusen (406) zu Unrecht angeklagten Strategen. Er war
der einzige, der die Stimme für die Freisprechung der zehn Feldherren abgab.
Während der Herrschaft der Dreißig Tyrannen (404/403) hielt er bei Gefahr für
das eigene Leben am Rechtsstaat fest. In der Darstellung des Diogenes Laertius
(2, 24) heißt es hierzu: „In seinen Überzeugungen ließ er sich nicht irremachen;
er hielt sich zur Demokratie, wie ersichtlich ist aus dem Widerstande, den er
dem Kritias und dessen Genossen [den Dreißig Tyrannen] entgegensetzte, als
sie ihm den Befehl gaben, den Leon aus Salamis, einen reichen Mann, ihnen
in die Hände zu liefern, um ihn zum Tode zu verurteilen“.
Aus der hier zu erläuternden Stelle geht hervor, wie sehr N.s Darstellung
des Sokrates, analog seiner Bewertung des Euripides, durch die Aufklärungs-
feindschaft bestimmt ist, die er in dieser Frühphase noch hegte: Für den Ver-
lust der „alten marathonischen vierschrötigen Tüchtigkeit an Leib und Seele“
(ein deutlicher Reflex des von Aristophanes vermittelten Aischylos-Porträts)
macht er mit den „Anhängern der ,guten alten Zeit“4 eine zweifelhafte Aufklä-
rung „bei fortschreitender Verkümmerung der leiblichen und seelischen
Kräfte“ verantwortlich. In der Schrift Menschliches, Allzumenschliches revidiert
N. jedoch seine Aufklärungsfeindschaft. Im Hinblick auf Sokrates beruft er sich
nicht mehr auf Aristophanes, sondern auf die positive Darstellung in Xeno-
phons Memorabilien, die er nun besonders hochschätzt (MA II WS 86, KSA 2,
591 f.). Am eindrücklichsten geht N. mit der Aufklärungsfeindschaft der Deut-
schen seit der Romantik und mit der noch in dieser Tradition stehenden eige-
nen Aufklärungsfeindschaft seiner Erstlingsschrift in der Morgenröthe ins
Gericht (M 197, KSA 3, 171, 7-172, 30).
In den Aufzeichnungen zu seiner Tragödienvorlesung vom Sommersemes-
ter 1870 läßt N. im Gegensatz zu den identifikatorischen Ausführungen in GT
eine distanzierende Reflexion der Aristophanischen Kritik an Euripides erken-
nen (KGW II 3, 44): „Die Kritik welche Aristoph. in den Fröschen übt, hebt den
innersten Kern der Eurip. Reform nicht heraus [zuvor war die Rede von der
,Reformation der Kunst nach socratischen Prinzipien: es soll alles verstän-
dig sein, damit alles verstanden werden könne4]; jedenfalls war damals Eurip.
schon durchgedrungen und nur die Vertreter der alten guten Zeit wiesen ihn
zurück“.
 
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