290 Die Geburt der Tragödie
der Dialektik. Von dem unendlich vertieften germanischen Bewußtsein aus
erscheint jener Sokratismus als eine völlig verkehrte Welt [...] Die Fanatiker der
Logik sind unerträglich wie Wespen“ (KSA 1, 541, 27 f.). Da N. auf der Grundlage
von Schopenhauers Pessimismus das Tragische und damit auch die ,wahre4
Tragödie mit dem Pessimistischen gleichsetzt, ist der von ihm im Hinblick auf
Sokrates (vgl. hierzu auch den Kommentar zu 100, 25 f.) wie auf Euripides
behauptete Optimismus eine mit der Tragödie nicht zu vereinbarende Geistes-
haltung.
Irreführend ist die Behauptung einer optimistischen Geisteshaltung bei
Euripides, weil offenkundig die meisten Tragödien des Euripides von einem
Pessimismus der schwärzesten Art erfüllt sind, indem sie Katastrophen bis
zur Wahrnehmung verzweiflungsvoller Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit trei-
ben sowie Prozesse verhängnisvoller Selbstzerstörung inszenieren. Daher
sieht sich N. zu zwei Hilfskonstruktionen genötigt: Erstens glaubt er „das
optimistische Element im Wesen der Dialektik“ (94,21 f.) annehmen zu kön-
nen; zweitens deutet er den euripideischen „deus ex machina“ als eine flach
optimistische Lösung (95, 3), obwohl eher eine pessimistische Deutung nahe
liegt, da der deus ex machina als Operator einer gänzlich unwahrscheinlichen
finalen Wendung zum Guten eben eine solche Wendung zum Guten demen-
tiert. Abgesehen davon übergeht N. auch die Tatsache, daß von den siebzehn
erhaltenen Tragödien des Euripides nur wenige einen deus ex machina auf-
bieten.
94, TI f. bis zum Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel.] Damit macht N.
selbst einen „salto mortale“ über Jahrtausende, hin zum bürgerlichen Trauer-
spiel des 18. und teilweise noch des 19. Jahrhunderts. Er nennt es bewußt nicht
Tragödie oder Trauerspiel, sondern „Schauspiel“. Damit spricht er ihm das
Tragische ab, weil es Bürger vorführt, keine tragischen „Helden“ im antiken,
vom Mythos wie vom hohen Stand her definierten Sinn; es zeigt die Bürger im
Gegensatz zur höfischen Adelswelt und thematisiert Normenprobleme inner-
halb der bürgerlichen Welt selbst. Im Kontext ist die Heranziehung des „bür-
gerlichen Schauspiels“ nicht nur historisch, sondern auch kategorial verfehlt,
da das bürgerliche Trauerspiel weder „dialektisch“ noch „optimistisch“, son-
dern empfindsam und gesellschaftskritisch ist. Darüberhinaus dürfte N. an die
trivialen bürgerlichen Familiengemälde gedacht haben, wie sie etwa Iffland
und Kotzebue in ihren Stücken boten.
94, 28-32 Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen
Sätze: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugend-
hafte ist der Glückliche“: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der
Tod der Tragödie.] Die Quelle der von N. so genannten „sokratischen Sätze“ ist
der Dialektik. Von dem unendlich vertieften germanischen Bewußtsein aus
erscheint jener Sokratismus als eine völlig verkehrte Welt [...] Die Fanatiker der
Logik sind unerträglich wie Wespen“ (KSA 1, 541, 27 f.). Da N. auf der Grundlage
von Schopenhauers Pessimismus das Tragische und damit auch die ,wahre4
Tragödie mit dem Pessimistischen gleichsetzt, ist der von ihm im Hinblick auf
Sokrates (vgl. hierzu auch den Kommentar zu 100, 25 f.) wie auf Euripides
behauptete Optimismus eine mit der Tragödie nicht zu vereinbarende Geistes-
haltung.
Irreführend ist die Behauptung einer optimistischen Geisteshaltung bei
Euripides, weil offenkundig die meisten Tragödien des Euripides von einem
Pessimismus der schwärzesten Art erfüllt sind, indem sie Katastrophen bis
zur Wahrnehmung verzweiflungsvoller Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit trei-
ben sowie Prozesse verhängnisvoller Selbstzerstörung inszenieren. Daher
sieht sich N. zu zwei Hilfskonstruktionen genötigt: Erstens glaubt er „das
optimistische Element im Wesen der Dialektik“ (94,21 f.) annehmen zu kön-
nen; zweitens deutet er den euripideischen „deus ex machina“ als eine flach
optimistische Lösung (95, 3), obwohl eher eine pessimistische Deutung nahe
liegt, da der deus ex machina als Operator einer gänzlich unwahrscheinlichen
finalen Wendung zum Guten eben eine solche Wendung zum Guten demen-
tiert. Abgesehen davon übergeht N. auch die Tatsache, daß von den siebzehn
erhaltenen Tragödien des Euripides nur wenige einen deus ex machina auf-
bieten.
94, TI f. bis zum Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel.] Damit macht N.
selbst einen „salto mortale“ über Jahrtausende, hin zum bürgerlichen Trauer-
spiel des 18. und teilweise noch des 19. Jahrhunderts. Er nennt es bewußt nicht
Tragödie oder Trauerspiel, sondern „Schauspiel“. Damit spricht er ihm das
Tragische ab, weil es Bürger vorführt, keine tragischen „Helden“ im antiken,
vom Mythos wie vom hohen Stand her definierten Sinn; es zeigt die Bürger im
Gegensatz zur höfischen Adelswelt und thematisiert Normenprobleme inner-
halb der bürgerlichen Welt selbst. Im Kontext ist die Heranziehung des „bür-
gerlichen Schauspiels“ nicht nur historisch, sondern auch kategorial verfehlt,
da das bürgerliche Trauerspiel weder „dialektisch“ noch „optimistisch“, son-
dern empfindsam und gesellschaftskritisch ist. Darüberhinaus dürfte N. an die
trivialen bürgerlichen Familiengemälde gedacht haben, wie sie etwa Iffland
und Kotzebue in ihren Stücken boten.
94, 28-32 Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen
Sätze: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugend-
hafte ist der Glückliche“: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der
Tod der Tragödie.] Die Quelle der von N. so genannten „sokratischen Sätze“ ist