Stellenkommentar GT 14, KSA 1, S. 94-95 291
vor allem Platons Frühdialog Protagoras 355b-c; 361a-c; allerdings handelt es
sich nicht um „Sätze“ im Sinne von festen Thesen, sondern lediglich um Posi-
tionen, die in einem aporetisch offen bleibenden Streitgespräch experimentell
bezogen werden. Dabei kehren sich die Positionen des Sokrates und seines
Kontrahenten Protagoras sogar dialektisch um. Während Sokrates zuerst skep-
tisch bemerkt, die „Tugend“ (arete) sei doch offensichtlich nicht lehrbar (317e-
320a), setze also kein Wissen voraus, konstatiert er schließlich das Gegenteil;
doch ist dies nicht als Fazit zu verstehen, sondern als Station auf dem Weg
eines experimentellen dialektischen Denkens, das seinerseits nicht ein endgül-
tiges Wissen beansprucht. Dies entspricht dem berühmten Diktum des Sokra-
tes, er wisse, daß er nichts wisse (vgl. NK 89, 5-9). Dennoch läßt sich hierin der
Ansatz zu einer auf „Wissen“ basierenden Ethik erkennen. Aristoteles merkt in
der Nikomachischen Ethik (1145b) kritisch an, daß sie der Tatsache der Willens-
schwäche (ÜKpaaia) und des Handelns wider besseres Wissen nicht Rechnung
trage.
94, 34-95, 3 jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus
zu dem flachen und frechen Princip der „poetischen Gerechtigkeit“ mit seinem
üblichen deus ex machina erniedrigt.] Aus N.s Vorlesungsaufzeichnungen geht
hervor, daß er sich in seiner Basler Zeit intensiv mit der Orestie des Aischylos
(KGW II 2, 1-104) beschäftigte, vor allem mit dem zweiten Teil-Drama dieser
Tragödien-Trilogie, den Choephoren. Doch bezieht sich die hier zu erörternde
Stelle auf das dritte Teil-Drama, die Eumeniden, sowie im (unausgesprochenen)
Vergleich auf die vom gleichen mythischen Stoff - der Rachehandlung des
Orestes und deren Folgen - ausgehenden Euripideischen Tragödie Orestes, in
der am Ende Apollon als deus ex machina auftritt. Zwischen beiden Werken
liegt ein halbes Jahrhundert. An dessen Beginn steht nach der Überwindung
innerer Wirren der Aufstieg Athens zu seiner größten Zeit, am Ende der voll-
ständige Niedergang durch den Peloponnesischen Krieg und dessen selbstzer-
störerische Folgen. Die Orestie, das letzte der erhaltenen Werke des Aischylos,
wurde 458 v. Chr. uraufgeführt, der Orestes, eines der späten Werke des Euripi-
des, im Jahr 408 v. Chr.
Daß N. von der „transscendentalen Gerechtigkeitslösung des Aeschylus“
spricht, verrät zunächst die (weitverbreitete) Verwechslung des - vor allem seit
Kant - erkenntnistheoretisch gebrauchten Begriffs ,transzendental4 mit dem
Begriff transzendent4, der sich auf die metaphysische Transzendenz, auf ein
Jenseits4 bezieht. Allerdings war N.s Sprachgebrauch unter Nicht-Kantianern
im 19. Jahrhundert üblich. Die Handlung der Orestie besteht in einem schein-
bar ausweglosen Rache-Mechanismus: Agamemnon opfert die eigene Tochter
Iphigenie, weshalb die Mutter Klytaimnestra den Agamemnon nach dessen
Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg tötet. Orestes muß infolgedessen seiner
vor allem Platons Frühdialog Protagoras 355b-c; 361a-c; allerdings handelt es
sich nicht um „Sätze“ im Sinne von festen Thesen, sondern lediglich um Posi-
tionen, die in einem aporetisch offen bleibenden Streitgespräch experimentell
bezogen werden. Dabei kehren sich die Positionen des Sokrates und seines
Kontrahenten Protagoras sogar dialektisch um. Während Sokrates zuerst skep-
tisch bemerkt, die „Tugend“ (arete) sei doch offensichtlich nicht lehrbar (317e-
320a), setze also kein Wissen voraus, konstatiert er schließlich das Gegenteil;
doch ist dies nicht als Fazit zu verstehen, sondern als Station auf dem Weg
eines experimentellen dialektischen Denkens, das seinerseits nicht ein endgül-
tiges Wissen beansprucht. Dies entspricht dem berühmten Diktum des Sokra-
tes, er wisse, daß er nichts wisse (vgl. NK 89, 5-9). Dennoch läßt sich hierin der
Ansatz zu einer auf „Wissen“ basierenden Ethik erkennen. Aristoteles merkt in
der Nikomachischen Ethik (1145b) kritisch an, daß sie der Tatsache der Willens-
schwäche (ÜKpaaia) und des Handelns wider besseres Wissen nicht Rechnung
trage.
94, 34-95, 3 jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus
zu dem flachen und frechen Princip der „poetischen Gerechtigkeit“ mit seinem
üblichen deus ex machina erniedrigt.] Aus N.s Vorlesungsaufzeichnungen geht
hervor, daß er sich in seiner Basler Zeit intensiv mit der Orestie des Aischylos
(KGW II 2, 1-104) beschäftigte, vor allem mit dem zweiten Teil-Drama dieser
Tragödien-Trilogie, den Choephoren. Doch bezieht sich die hier zu erörternde
Stelle auf das dritte Teil-Drama, die Eumeniden, sowie im (unausgesprochenen)
Vergleich auf die vom gleichen mythischen Stoff - der Rachehandlung des
Orestes und deren Folgen - ausgehenden Euripideischen Tragödie Orestes, in
der am Ende Apollon als deus ex machina auftritt. Zwischen beiden Werken
liegt ein halbes Jahrhundert. An dessen Beginn steht nach der Überwindung
innerer Wirren der Aufstieg Athens zu seiner größten Zeit, am Ende der voll-
ständige Niedergang durch den Peloponnesischen Krieg und dessen selbstzer-
störerische Folgen. Die Orestie, das letzte der erhaltenen Werke des Aischylos,
wurde 458 v. Chr. uraufgeführt, der Orestes, eines der späten Werke des Euripi-
des, im Jahr 408 v. Chr.
Daß N. von der „transscendentalen Gerechtigkeitslösung des Aeschylus“
spricht, verrät zunächst die (weitverbreitete) Verwechslung des - vor allem seit
Kant - erkenntnistheoretisch gebrauchten Begriffs ,transzendental4 mit dem
Begriff transzendent4, der sich auf die metaphysische Transzendenz, auf ein
Jenseits4 bezieht. Allerdings war N.s Sprachgebrauch unter Nicht-Kantianern
im 19. Jahrhundert üblich. Die Handlung der Orestie besteht in einem schein-
bar ausweglosen Rache-Mechanismus: Agamemnon opfert die eigene Tochter
Iphigenie, weshalb die Mutter Klytaimnestra den Agamemnon nach dessen
Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg tötet. Orestes muß infolgedessen seiner