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292 Die Geburt der Tragödie

Sohnespflicht folgen und den ermordeten Vater rächen, indem er seine Mutter
Klytaimnestra tötet, wodurch er in schwere Schuld und Reuegefühle gerät -
ihn wiederum verfolgen die als unerbittlich geltenden Rachegöttinnen, die
Erinnyen. Das Ende der Eumeniden bietet die von N. gemeinte „Gerechtigkeits-
lösung“: Athene setzt Richter ein und gründet einen Gerichtshof, den Areopag
(V. 681-710). Athene und Apollon nehmen an der Stimmabgabe der Richter teil
und Orestes wird mit Stimmengleichheit freigesprochen, nachdem Athene, als
die für eine befriedende Polis-Ordnung zuständige Stadtgöttin Athens, ihren
Stimmstein für ihn abgegeben hat (V. 734-753). Damit ist das archaische Gesetz
der Rache aufgehoben. Die blutrünstigen Erinnyen verwandeln sich in Wohlge-
sinnte4, in Eumeniden, und werden in Zukunft nur noch segensreich wirken.
Ganz am Schluß (V. 1032-1047) geleitet ein Festzug die Eumeniden zu ihrem
neuen Wohnsitz: zum Areopag, dem athenischen Gerichtshof, der fortan Recht
sprechen wird. Der archaische Zwang zur Rache ist außer Kraft gesetzt und
eine feste Rechtsordnung etabliert. Im Gegensatz zu dem von N. in den frühe-
ren Partien von GT entworfenen Bild des Aischylos als des großen, eigentlichen
Tragikers endet die Handlung also untragisch, und die göttlich legitimierte
„Gerechtigkeitslösung“ gründet nicht auf einer absoluten, prinzipiell gedach-
ten „Gerechtigkeit“, sondern ist auf eine ,politisch4 (im Sinne der Polis) konzi-
pierte Rechtsordnung hin ausgerichtet. Denn die Gleichheit der Stimmen beim
Gericht über Orest zeigt, daß sich Gerechtigkeit nicht eindeutig bestimmen,
sondern nur - das erweist die Stimmabgabe der Stadtgöttin Athene - aus der
Verantwortung für das Ganze, für die Polis, herstellen läßt.
N. verschweigt, daß Athene in den Eumeniden des Aischylos eine ähnliche
Funktion wie der deus ex machina bei Euripides erfüllt: Lösung menschlicher
Probleme durch übermenschlich-göttliches Eingreifen, allerdings ohne die sub-
versiv-tragische4 Intention des Euripides. Zu N.s problematischer Deutung des
Euripideischen deus ex machina vgl. NK 86, 26-30.
Abwegig und bloß durch die tendenziöse Absicht bestimmt ist in der hier
zu erörternden Stelle N.s Versuch, die Tragödien des Euripides dem Prinzip
der „poetischen Gerechtigkeit“ zuzuordnen: Euripides stellt in der Medea, in
den Herakliden, in der Andromache und in den Phoinikerinnen die - manchmal
die tragischen Helden bis zur Verzweiflung treibende - Ungerechtigkeit als
einen Grundzug des Weltgeschehens dar. Zum Prinzip der poetischen Gerech-
tigkeit4 vgl. N.s Notiz vom Herbst 1869, NL 1869, KSA 7, l[103], 40, 6-8: „Die
dumme Lehre von der poetischen Gerechtigkeit gehört ins bürgerliche Famili-
enschauspiel, in die Wiederspiegelung des Philisterdaseins: sie ist der Tod der
Tragödie“. Welche Bedeutung N. der Zurückweisung der Lehre von der „poeti-
schen Gerechtigkeit“ zumaß, geht daraus hervor, daß er schon in der Einlei-
tung zu seiner Tragödienvorlesung vom Sommersemester 1870 ausführlich auf
 
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