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Stellenkommentar GT 15, KSA 1, S. 98-99 301

Künstler (der mit „Wenn nämlich“ eingeleitete Satz 98, 15, unterscheidet den
„Künstler“ vom „theoretischen Menschen“) „mit verzückten Blicken“ an der
„Hülle“, d. h. am sinnlich wahrnehmbaren schönen Schein, „hängen bleibt“,
hat der theoretische Mensch „sein höchstes Lustziel [pöovp] in dem Prozess
einer immer glücklichen [« Evöaipovia], durch eigene Kraft [« EVEpycia] gelin-
genden Enthüllung“ (der äAfi0Eta), allerdings nur in dem „Prozess“ des Enthül-
lens. Die „eine nackte Göttin“ ist die sprichwörtliche „nackte Wahrheit“:
ötÄr|0Ei.cx im buchstäblichen Sinn.
Die gesamte auf die „Wahrheit“ und den „Prozess“ der „Enthüllung“
gerichtete Partie ist schon perspektiviert auf Lessings alsbald zitierten berühm-
ten Ausspruch über das „Suchen der Wahrheit“ (99, 1-5). Der argumentative
Zusammenhang der Partie bleibt insofern schwer erkennbar, als zuerst vom
„Genügen am Vorhandenen“ die Rede ist, das für den „theoretischen Men-
schen“ charakteristisch sei, dann aber von der „Wahrheit“ und schließlich vom
„Prozess“ der Wahrheitssuche, der ein wesentliches Movens der „Wissen-
schaft“ (98, 21 f.) bilde; im Zusammenhang mit Lessing spricht N. dagegen
wieder vom „Aerger der Wissenschaftlichen“ über dessen Diktum, das ja nicht
das Wissen, sondern die Wahrheitssuche am höchsten wertet. Damit wird die
„Wissenschaft“, die vorher als Suche nach Wahrheit charakterisiert wurde, von
den „Wissenschaftlichen“ getrennt.
Der Theoriebegriff, wie er N.s Vorstellung vom „theoretischen Menschen“
zugrundeliegt, bleibt trotz der aristotelischen Einsprengsel opak. Deutlich wird
nur die - ebenfalls aristotelische - Unterscheidung der „theoretischen“ und
der „praktischen“ Lebensform, wenn es heißt, der „theoretische Mensch“ sei
„wie der Künstler“ „vor der praktischen Ethik des Pessimismus und seinen nur
im Finsteren leuchtenden Augen“ geschützt, und zwar „durch jenes Genügen“
an sich selbst. Die „praktische Ethik“ wird demnach als eine realistische Ethik
aufgrund pessimistischer Resignation gegenüber den Möglichkeiten der Theo-
rie interpretiert, ohne daß dies genauer zu fassen wäre. Lynkeus hat in der
griechischen Mythologie die Gabe eines übernatürlich scharfen, alles durch-
dringenden Blicks. Die „Lynkeusaugen“ werden hier dem im „Finsteren“ heimi-
schen „Pessimismus“ (Schopenhauerscher Provenienz) zugeschrieben. N.
kannte den Faust II gut. In der Szene Tiefe Nacht („im Finsteren“) des 5. Akts
singt Lynkeus sein berühmtes Lied (V. 11288-11337), in dem er ausruft: „Welch
ein gräuliches Entsetzen / Droht mir aus der finstern Welt!“ (V. 11306 f.)
99,1-3 Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszuspre-
chen gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen
sei] Lessings vielzitierte Worte stehen in einer seiner theologiekritischen Kon-
troversen aus dem Jahre 1778, die den Titel Eine Duplik trägt: „Nicht die Wahr-
heit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern
 
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