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312 Die Geburt der Tragödie

die auf der Voraussetzung basiert, daß die „notwendigen Formen und eigenen
Bestimmungen des Denkens“ selbst die substantielle Grundlage der Wirklich-
keit bilden (Logik I 31, 44). Hegel identifiziert so Sein und Denken, indem er
das Sein auf das Denken zurückführt. Bei N. dagegen bleibt das Denken an
seine eigenen, uneinholbaren Voraussetzungen gebunden. In einer Notiz heißt
es (NL 1870/1871, KSA 7, 5[92], 117, 23 f.): „Denken und Sein sind keinesfalls
dasselbe. Das Denken muß unfähig sein, dem Sein zu nahen und es zu
packen“. N.s metaphorische Aussage, daß „die Logik [...] endlich sich in den
Schwanz beißt“, erinnert insbesondere an Hegels Charakterisierung der zykli-
schen Struktur der Logik, die er jeweils am Ende der Wissenschaft der Logik
und der Enzyklopädie formuliert. Am Ende der Wissenschaft der Logik, im soge-
nannten „Methodenkapitel“, schreibt Hegel: „Vermöge der aufgezeigten Natur
der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis
dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurück-
schlingt [...] So ist denn auch die Logik in der absoluten Idee zu dieser einfa-
chen Einheit zurückgegangen, welche ihr Anfang ist“ (Georg Wilhelm Friedrich
Hegel: Wissenschaft der Logik II, in: Hegel, Werke in 20 Bänden, stw 606,
Werke 6, S. 571 f.). In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
Grundrisse (1830), Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, Theorie Werkaus-
gabe, Werke 10, Frankfurt 1970, heißt es (§ 574): „Die Wissenschaft ist auf diese
Weise in ihren Anfang zurückgegangen und das Logische so ihr Resultat als
das Geistige, daß es aus dem voraussetzenden Urteilen, worin der Begriff nur
an sich und der Anfang ein Unmittelbares war, hiermit aus der Erscheinung,
die es darin an ihm hatte, in sein reines Prinzip zugleich als in sein Element
sich erhoben hat“. Der Ausgangspunkt ist der berühmte Satz aus der Metaphy-
sik des Aristoteles (1072b 19-20): „Sich selbst denkt der Geist im Ergreifen des
Denkbaren“ (otvTÖv öe voei ö voüq Korra psTäArppiv toü vopToü). Hegel
beschließt mit diesem Satz und seinem Kontext, griechisch zitierend, die
Enzyklopädie.
101, 29-32 die neue Form der Erkenntniss [...] die tragische E r kennt-
niss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst
braucht.] Die neue, tragische Form der Erkenntnis, die sich am Ende der alten,
vom Optimismus der Wissenschaft geprägten Erkenntnissphäre ergibt, besteht
in der Wahrnehmung des unmittelbar zuvor genannten ,,Unaufhellbare[n]“
(101, 27), durch die der wissenschaftliche Geist seines eigenen Scheiterns inne
wird und damit seinen Optimismus verliert. Sie besteht aber auch in der von
Schopenhauers pessimistischer Philosophie grundierten Einsicht in die nega-
tive, weil durch Leiden bestimmte Verfassung des Daseins. Später distanziert
sich N. von dem hier wie auch sonst in GT mit dem Tragischen gleichgesetzten
Schopenhauerschen Pessimismus. Er nimmt eine entschiedene Neukodierung
 
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