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314 Die Geburt der Tragödie

für N. die geniale „Kunst“, weil er den ganzen Passus auf Wagner und die
„Wiedergeburt der Tragödie“ (103, 13f.) durch ihn perspektiviert. Das
folgende 16. Kapitel handelt explizit von dieser Wiedergeburt. N. verehrte Wag-
ner auch in den Briefen aus dieser Zeit als „Genius“. Schon in seinem ersten
Brief an Wagner vom 22. Mai 1869 nennt er den verehrten Meister nicht weniger
als dreimal einen „Genius“ (KSB 3, Nr. 4, S. 8, Z. 11-21). Dem Freund Gersdorff
versichert er am 28. September 1869: „Ich habe Dir schon geschrieben, von
welchem Werthe mir dieser Genius ist: als die leibhafte Illustration, dessen,
was Schopenhauer ein ,Genie4 nennt“ (KSB 3, Nr. 32, S. 61, Z. 27-29). Ähnliche
Äußerungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Korrespondenz dieser
Zeit. An Cosima Wagner schreibt N. am 19. Juni 1870 sogar von der religiösen
Stimmung, die das Genie erzeuge: „Dies Dasein der Götter im Hause des
Genius erweckt jene religiöse Stimmung, von der ich berichtete“ (KSB 3, Nr. 81,
S. 125, Z. 14 f.).
102,17-21 Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite,
als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kämpfe
und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie
schaut, sie auch kämpfen muss!] Die auch sonst auffallende Kampf-Metaphorik
erreicht in dieser Figura etymologica ihren rhetorischen Höhepunkt. Im folgen-
den Kapitel setzt sie sich sogleich fort: „wir müssen mitten hinein in jene
Kämpfe treten, welche [...] in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt
gekämpft werden“ (102, 30-103 2). „Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe
hineinstürzen, hüllen wir uns in die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkennt-
nisse“ (103,16 f.). Die Vorstellung von auszufechtenden „Kämpfen“ bezieht sich
schon im ersten Brief N.s an Wagner auf diesen und die für die Durchsetzung
seiner Kunst erforderlichen Anstrengungen der wenigen Auserwählten, zu
denen sich N. zählte. „Auch fällt diesen Wenigen“, schreibt N. an Wagner am
22. Mai 1869, „der Genuß des Genius nicht so ohne alle Mühe in den Schooß,
vielmehr haben sie kräftig gegen die allmächtigen Vorurtheile und die entge-
genstrebenden eignen Neigungen zu kämpfen; so daß sie, bei glücklichem
Kampfe, schließlich eine Art Eroberungsrecht auf den Genius haben“ (KSB 3,
Nr. 4, S. 8, Z. 17-21). Trotz der mit der Beschwörung der „Kämpfe“ hergestellten
metaphorischen und rhetorischen Brücke vom Ende des 15. zum Anfang des
16. Kapitels ergibt sich hier ein tiefer Einschnitt und eine durch die dramatisie-
rende Kampfmetaphorik kaum zu verhüllende kompositorische Verlegenheit.
Sie resultiert aus der Textgenese: Bis zum Ende des 15. Kapitels reicht die weit-
gehend wörtliche Übernahme der Schrift Sokrates und die griechische Tragödie.
Mit deren Ende (KSA 1, 640) fällt das Ende des 15. Kapitels zusammen.
 
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