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Stellenkommentar GT 16, KSA 1, S. 104 321

Tpaywöiaq piepn. clvai e^, Ka0’ ö notöt tu; ectt'iv 17 Tpayqjötor Tairra ö’ ectt'i pvOoq
Kai rj0p Kai As^iq Kai öiävoia Kai ötptq Kai psAonoiia, 1450a 7-10). Ausdrücklich
wertet Aristoteles die Musik sogar als bloßes Beiwerk, das einer Tragödien-
Aufführung allenfalls „Annehmlichkeit“ verleihe (psyiorov tcüv pöuopäTGJV,
1450b 15-16). Irritiert notiert N. in seinem Nachlass: „Die Aesthetik des Aristo-
teles. / Die Musik und die ötptq als pövopa“ (NL 1870/1871, KSA 7, 5[124], 128).
Aufgrund der fundamental anderen Rolle der Musik, die N., ausgehend von
Schopenhauers metaphysisch-überhöhter und Wagners spätromantisch-„dio-
nysischer“ Musikauffassung, für die griechische Tragödie in Anspruch nimmt,
entwirft er seine antiaristotelische Konzeption. Zunächst verändert er die
geschichtliche Interpretationsperspektive im Gegensinn. Aristoteles interpre-
tiert die Geschichte der griechischen Tragödie als eine Entwicklung von impro-
visatorischen Anfängen hin zu einem Vollendungsziel (Poetik 1449a 9-15) - zu
einem Telos, das sie schließlich bei den großen Tragikern Aischylos, Sophokles
und Euripides erreicht; N. stellt dieser Vollendungsgeschichte eine Verfallsge-
schichte entgegen. Für ihn ist der vermeintliche „Ursprung“ der Tragödie in
einer zum Absolutum erhobenen Musik der Maßstab, an dem er alles Spätere
mißt. Aufgrund des immer weiter gehenden Bedeutungsverlustes der „Musik“
(des Chores) schreibt er eine Niedergangsgeschichte. Da N. in Wagners Sinn
die „Musik“ als ein gefühls- und rauschhaftes Ur-Erlebnis versteht, setzt er sie
mit dem „Dionysischen“ gleich. Aristoteles mitsamt seiner Tragödientheorie
gilt ihm dagegen als Vertreter einer antimusikalischen und antidionysischen
Tragödienkonzeption.
Wie N. aufgrund seiner Verfallsperspektive die Darstellung des Aristoteles
im Ganzen konterkariert, so auch in allen Einzelpositionen. Vorab betrifft dies
die Grundlage der aristotelischen Poetik, derzufolge die Tragödie, wie die Kunst
überhaupt, Nachahmung (Mimesis) von Wirklichkeit ist, wenn auch nicht in
einem engen Sinn. Maßgebend war für N. die von Schopenhauer stammende,
romantisch-idealistisch grundierte und in Wagners Beethoven-Festschrift über-
nommene Vorstellung, die Musik sei eine „metaphysische“ und daher von
jeder äußeren,,physischen4 Mimesis abgehobene Kunst. Daraus resultiert seine
strikte Gegenposition zur Mimesislehre des Aristoteles. Deshalb auch verfehlt
für N. die Tragödie in ihrer späteren Entwicklung ihr Wesen, wenn sie sich von
ihrem musikalischen „Ursprung“ entfernt. In der schon zitierten (NK 104, 24-
28), auf einem losen Blatt überlieferten Anmerkung, in der N. die Poetik des
Aristoteles angreift, beruft er sich gerade auf ein solches archaisches
Ursprungsstadium, in dem es „große künstlerische Instinkte“, „poetische
Urformen“ und ein „künstlerische[s] Urphänomen“ gegeben habe. Im Lichte
dieser archaisierenden Ursprungs- und Kunstideologie (von ihr rückte N. später
in Menschliches, Allzumenschliches ab, vgl. den Überblickskommentar S. 66)
 
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