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334 Die Geburt der Tragödie

alle Die, welche noch des Willens [d. h. des Lebensdrangs] voll sind, allerdings
Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet
und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und
Milchstraßen - Nichts“.
Insgesamt greift N. in der hier zu erörternden Passage das damals in Mode
gekommene Schlagwort „Cultur“ in inflationärer Weise auf: Für ihn gibt es
nicht nur eine alexandrinische, hellenische und buddhaistische Cultur, son-
dern alsbald auch eine „sokratische Cultur“ (117, 6), eine „theoretische Cultur“
(117, 33), dann wieder „unsere Cultur“ (118, 16), eine „Cultur [...], welche ich
als eine tragische zu bezeichnen wage“ (118, 27 f.) im Gegensatz zu einer
„modernen Cultur“ (119, 23), dann eine „Cultur der Oper“ (120, 11 f.) usw.
Hintergrund ist die zeitgenössische Vorliebe für kulturgeschichtliche Darstel-
lungen. Vgl. NK 146, 10-12. Herder hatte in der Vorrede zu seinem Hauptwerk:
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785) über das Wort „Kul-
tur“ geschrieben: „Nichts ist unbestimmter als dieses Wort und nichts ist trüg-
licher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten“ (Johann
Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in:
Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a.,
Bd. 6, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt 1989, S. 12). Vgl. Ernest Tonnelat:
Kultur, histoire du mot, evolution et sens, in: Civilisation, le mot et l’idee, Paris
1930.
116, 20-24 selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imita-
tionen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des Reimes erkennen wir noch
die Entstehung unserer poetischen Form aus künstlichen Experimenten mit einer
nicht heimischen, recht eigentlich gelehrten Sprache.] N. denkt bei den „gelehr-
ten Imitationen“ an die frühneuzeitliche Humanistenpoesie und an die grund-
legende Dichtungslehre, die Martin Opitz mit seinem 1624 erschienenen Buch
von der Deutschen Poeterey schuf. Die große deutsche Dichtung des Mittelalters
hingegen, die nicht aus gelehrten Imitationen erwachsen ist, bleibt außerhalb
seines Gesichtsfelds. Den Reim kannte weder die griechische noch die römi-
sche Dichtung; insofern läßt er sich gerade nicht, wie N. meint, aus der „recht
eigentlich gelehrten Sprache“ (dies war das Latein) herleiten. Reime erschei-
nen erstmals in der christlichen Hymnendichtung der Spätantike. Mit der
Abwertung des Endreims schloß sich N. an Wagner an, der den Stabreim bevor-
zugte, vgl. NK 132, 8-10.
116, 32-34 Wenn Goethe einmal zu Eckermann, mit Bezug auf Napoleon,
äussert: „Ja mein Guter, es giebt auch eine Productivität der Thaten“] Vgl.
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens, 11. März 1828.
 
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