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Stellenkommentar GT 19, KSA 1, S. 120 345

Hoffnung mit nationalem Pathos, N. spricht vom „Mysterium dieser Einheit
zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie“ (128,16 f.) und
von einer neuen Selbstfindung des „deutschen Geist[s]“ (128, 29) „ohne das
Gängelband einer romanischen Civilisation“ (129, 1). Einem Grundmuster deut-
scher kultureller Identitätsbildung seit dem Klassizismus und dem Idealismus
folgend, empfiehlt er statt dessen die griechische Antike als Vorbild. Zugleich
rechtfertigt er damit seine als „analogische“ Grundlegung konzipierte Schrift,
die sich bisher extensiv den Griechen zuwandte.
120,14-32 die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung [...]
Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo rappresentativo und des Reci-
tativs [...] aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstleri-
schen Tendenz zu erklären.] Um 1600 wollten einige Florentiner Künstler
die griechische Tragödie wieder zum Leben erwecken. Ihre Aktivitäten führten
zur Entstehung der Oper, in der die Musik dem Wort untergeordnet war. N.
machte sich in der musikhistorischen Abhandlung Die Entstehung der Oper
von Ernst Otto Lindner kundig (in: E. 0. Lindner: Zur Tonkunst, Berlin 1864,
S. 1-42; vgl. NL 1871, KSA 7, 9[5], 271 f.). Die Florentiner gaben die Priorität rein
musikalischer Vertonungsprinzipien, für die Palestrina (1525-1594) mit seiner
Kirchenmusik stand, zugunsten sprachgebundener Kompositionen auf, weil sie
glaubten, dies entspreche der musikalischen Praxis der Griechen. So entstand
der stilo rappresentativo, der „darstellende Stil“ in der Oper des 16. und
17. Jahrhunderts, der die Stimmungen und Gefühle der Hauptpersonen effekt-
voll zum Ausdruck bringen sollte. Das Rezitativ (ital. recitare: vortragen) ist
ein Sprechgesang in feierlicher Deklamation. In Monteverdis Orfeo ging das
auf die sprachliche Darbietung konzentrierte Rezitativ in den musikalisch
expressiven, lebendigeren stilo rappresentativo über.
Klarer und aufschlußreicher als die Ausführungen in GT sind diejenigen
in der Vorstufe: in dem Basler Vortrag Das griechische Musikdrama. Bemer-
kenswert ist darin auch das an Wagners theoretischen Schriften orientierte
Plädoyer für eine aus dem Unbewußten stammende Musik und die entspre-
chende Abwertung einer aus bewußtem Kunstwissen resultierenden musikali-
schen Erfindung. Damit hängt ein weiteres, ebenfalls von Wagner übernomme-
nes Element zusammen: ein (letztlich auf Herder, den Sturm und Drang und
die Romantik zurückgehendes) organologisches Kunstverständnis, das sich auf
„Wurzeln“, auf ein „Wachsen und Werden [...] in tiefer Nacht“ beruft. „Das,
was wir heute die Oper nennen“, schreibt N., „das Zerrbild des antiken Musik-
drama’s, ist durch direkte Nachäffung des Alterthums entstanden: ohne die
unbewußte Kraft eines natürlichen Triebes, nach einer abstrakten Theorie
gebildet, hat sie sich, wie ein künstlich erzeugter homunculus, als der böse
Kobold unserer modernen Musikentwicklung geberdet. Jene vornehmen und
 
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