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Stellenkommentar GT 19, KSA 1, S. 128-129 359

zeitgenössischen Stürmer und Dränger: „Es ist wieder eine Schaar von Stür-
mern und Drängern im Anzug, wie im Jahre 1770, und Herr Nietzsche ist einer
ihrer geistvollsten und muthigsten Häuptlinge; aber - der Herder ist er doch
nicht, der dem dunklen Drange der Mitstrebenden Richtung und Ziel wiese: er
läßt es fürs erste beim Niederreißen bewenden. Vielleicht soll dieser Sturm
und Drang überhaupt seinen Herder nicht haben, wie auch jener der Romanti-
ker ihn nicht fand; denn er ist, was auch Herr Nietzsche, der selber tief drinnen
steckt, dagegen sagen mag, ein Sturm und Drang der Verneinung [...] er hat
seinen Ursprung im Gefühle des verkehrten Weges“ (zitiert nach dem Wieder-
abdruck in: Karl Hillebrand: Wälsches und Deutsches, Straßburg 1892, S. 303 f.).
Zum tatsächlichen Anschluß N.s an die Sturm- und Drang-Dichtung des jungen
Goethe vgl. NK 13, 29 f.
Zwei weniger reflektierte Modeschriftsteller des aufkommenden Naturalis-
mus und später noch des Wilhelminismus, die auch von N. beeinflußten Brü-
der Heinrich und Julius Hart, sahen hingegen ähnlich wie N. in der Anknüp-
fung an den Sturm und Drang ein Heilmittel: „Fast unsere gesamte
Epigonendichtung ist ihrem Wesen nach nichts mehr als ein zweiter Aufguß
der klassischen, eine glatte, durch Lektüre vermittelte Reproduktion, nir-
gendwo ein unendlicher Naturlaut, nirgendwo lebendige Quelle. Was ihr fehlt,
ist nicht die Empfindung überhaupt, aber wohl die elementare aus dem Herzen
der Natur aufquellende Empfindung, mit anderen Worten das Genie, der Natu-
ralismus im höchsten Sinne des Begriffes [...] Wir müssen wieder anknüpfen
an den jungen Goethe, den Schöpfer des ,Werther‘ und ,Faust4 [...] nur das
Genie kann lösen aus den Banden [...] der alle Dämme überfhithenden Refle-
xion“ (Heinrich und Julius Hart: Für und wider Zola, in: Kritische Waffengänge,
1882, Heft 2, S. 47-55).
129, 1 ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation] Vgl. 149, 14-16:
„der deutsche Geist [...] müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Roma-
nischen beginnen“. Der Kampf gegen die moderne „Civilisation“, insbesondere
gegen die französische, ist ein von Wagner immer wieder traktiertes Thema.
Daß N. sich wiederholt gegen die gesamte romanische Zivilisation wendet,
nicht bloß gegen die französische, ist im Kontext dieses 19. Kapitels aus der
Ablehnung der italienischen Oper und ihrer seit der Renaissance (vgl. den
Beginn dieses Kapitels) bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fortwirkenden Form-
tradition zu verstehen. Wagner hatte die italienische Opern-Tradition vor allem
in seiner Hauptschrift Oper und Drama abgewertet, um dagegen seine eigene
Opernkonzeption zu verfechten. Diese Auseinandersetzung wirkte auf die Zeit-
genossen mehr als seine sonstigen theoretischen Ausführungen.
129, 2-6 wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem
überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Sei-
 
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