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366 Die Geburt der Tragödie

modernen Geschichtswissenschaft. Ihn nimmt N., ohne Namensnennung, im
6. Kapitel der Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
unter Rankes historiographischem Leitbegriff „Objektivität“ ins Visier (285, 21-
295, 33; vgl. den Kommentar hierzu). Schon in einem nachgelassenen Notat
aus der Entstehungszeit der Tragödienschrift setzt sich N. kritisch mit der auf
„Objektivität“ eingeschworenen „Geschichtsschreibung“ auseinander (NL 1871,
KSA 7, 9[42], 288, 21-289, 21). In seinem Erstlingswerk aus dem Jahr 1824:
Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 formu-
lierte Ranke den berühmt gewordenen Satz: „Man hat der Historie das Amt,
die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu
belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Ver-
such nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“ (SW 33/34, Leipzig
1874, 2. Auf!.).
Später notierte N. (NL 1884/1885, KSA 11, 26[348], 241, 21-23): „Die Schule
der,Objektiven4 und ,Positivisten4 zu verspotten. Sie wollen um die Werthschät-
zungen herum kommen, und nur die facta entdecken und präsentiren“; zu
Ranke speziell, der tief im Protestantismus verwurzelt war und optimistisch
auf die Ökonomie des göttlichen Willens vertraute, die sich in jeder Epoche neu
zeige, bemerkte N. (NL 1885, KSA 11, 40[62], 662, 1-7): „Die beschönigende
Geschichtsschreibung Ranke’ s, seine Leisetreterei an allen Stellen wo es gilt,
einen furchtbaren Unsinn des Zufalls als solchen hinzustellen; sein Glaube an
einen gleichsam immanenten Finger Gottes, der gelegentlich einmal etwas am
Uhrwerk schiebt und rückt: denn er wagt es nicht mehr, der Über-Ängstliche,
weder ihn als Uhrwerk, noch als Ursache des Uhrwerks anzusehn“. Schließlich
heißt es (NL 1885, KSA 11, 41[16], 689, 31): „Ranke, der beschönigende Advo-
kat der Thatsachen“. N.s besonderes Interesse an Ranke geht aus einer nachge-
lassenen Notiz hervor (NL 1875, KSA 8, 4[1], 39, 2f.): „Bücher anzuschaffen
und einzutauschen. / Historiker z. B. den ganzen Ranke“.
Zur „gebildeten Geschichtsschreibung“ gehörten für N. auch die zeitgenös-
sischen Philosophie-Geschichten. Grundsätzlich bemerkt er in nachgelassenen
Notaten Anfang 1874 unter der Überschrift Erziehung des Philosophen:
„Nicht gelehrtenhaft. Keine Universitäten. Auch keine Geschichte der Philoso-
phie“ (NL 1874, KSA 7, 32[73], 780), und unter der Überschrift Universitäts-
philosophie: „im Dienst der Theologen / der Historie (Trendelenburg). /
Der Philosoph als Gelehrter unter Gelehrten. Kein Vorbild“ (NL 1874, KSA 7,
32[75], 781). In der vierten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern
(Über das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen
Cultur) attackiert N. die historisch Gebildeten generell als „Philister“, weil
ihnen der „Enthusiasmus“ und die Begeisterung für das „Erhabene“ fehle.
Speziell wendet er sich gegen den Typus desjenigen Gebildeten, der sich an
 
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