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Stellenkommentar GT 23-25, KSA 1, S. 145 391

der Historie für das Leben. Auch mit der Betonung des zeitlosen, vor- und
überhistorischen Charakters des Mythos gibt N. ein Echo auf Wagner. Dieser
hatte in seiner theoretischen Hauptschrift Oper und Drama statuiert: „Das
Unvergleichliche des Mythos ist, daß er jederzeit wahr, und sein Inhalt, bei
dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist. Die Aufgabe des
Dichters war es nur, ihn zu deuten“ (GSD IV, 64). Anschließend gibt Wagner
eine Probe solcher eigenen dichterischen ,Deutung4, indem er den Ödipus-
Mythos ganz aus seiner in der Entstehungszeit von Oper und Drama noch revo-
lutionär-anarchistischen Einstellung deutet. N. führt derartige Mythen-Deutun-
gen in GT 9 am Beispiel des schon von Dichtern gedeuteten Ödipus- und Pro-
metheus-Mythos vor. Dabei reflektiert er, Wagners Vorgabe entsprechend,
gerade den Vorgang der dichterischen Deutung: „der hellenische Dichter aber
berührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonssäule des
Mythus, so dass er plötzlich zu tönen beginnt“ (67, 16-18).
Das in den letzten drei Kapiteln dominierende Thema des „Mythus“ steht
in der Tradition eines romantisierten und ontologisierten Mythos-Begriffs. Im
ursprünglichen griechischen Wortverständnis heißt „Mythos“ einfach „Erzäh-
lung“, „Sage“, „Fabel“. In diesem Sinn bestimmt Aristoteles den Mythos als
konsistente Handlungsgrundlage der Tragödie (Poetik, 1450a-b). Tatsächlich
gestalten die griechischen Tragiker ihre Werke, im Unterschied zu den meist
aus freier Phantasie entsprungenen Komödien, auf der Grundlage überlieferter
Mythen, z. B. der Atriden-Sage, der Ödipus-Sage oder der Prometheus-Sage.
Erst vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Andersartigkeit von N.s Mythos-
Begriff ab. Er hängt eng mit Schopenhauers romantisch-metaphysischem
Musik-Begriff zusammen, weshalb für N. „Musik und tragischer Mythus“ als
„Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes“ eng zusammengehören
(154, 24 f.).
Dennoch läßt er den Mythos aus dem Ursprungsgrund Musik überhaupt
erst hervorgehen. Dies erklärt sich aus seinem systematisch durchgeführten
Anti-Aristotelismus (vgl. hierzu den im Kommentar zu 104, 24-28 zitierten
Text). Für Aristoteles ist nicht die Musik, sondern der „Mythos“ im schon
erwähnten Sinn „der Ursprungsgrund und gewissermaßen die Seele der Tragö-
die“ (ctpxn pev ovv Kai oiov vjwxn o phöoq Tf)q Tpayqjöiaq, 1450 a 38-39). An
die zweite Stelle setzt Aristoteles die Charaktere (toi qOrp 1450 a 39), die N.
ganz abwertet, indem er deren Profilierung zum spätzeitlichen Niedergangs-
phänomen erklärt (113, 15-34). Die Musik, die N. nicht nur der genetischen
Reihenfolge nach als „Ursprung“ an die erste Stelle rückt, sondern auch zum
eigentlichen, inneren Wesen der Tragödie deklariert, nennt Aristoteles als letz-
tes von insgesamt sechs Bestandteilen (1450a-b). Darüberhinaus rechnet er die
Musik ausdrücklich zu den weniger wichtigen äußeren Zutaten der Tragödie:
 
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