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390 Die Geburt der Tragödie

des Schlußkapitels heißt es: „Musik und tragischer Mythus sind in gleicher
Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von einander
untrennbar“ (154, 24-26). Der irrationalistische Zug von N.s „metaphysischem“
Mythosbegriff tritt schon im Anfangsabschnitt von GT 23 hervor, wo er sich
leitmotivisch mit der Vorstellung des „Wunders“ verbindet (145, 6; 145, 9; 145,
14). Mit ihr knüpft N. an die Schlußwendung von GT 20 an: „glaubt an die
Wunder eures Gottes“ (132, 18 f.). Dieser „dionysische“ Mythos-Begriff steht in
engem Zusammenhang mit der Vorstellung einer „gesunden schöpferischen
Naturkraft“ (145, 19 f.), die, markant regressiv, eine „herrliche, innerlich ge-
sunde, uralte Kraft“ (146, 34) ist. Sie entspringt einer „mythischen Heimat“
(146, 14; 149, 23; 154, 7f.), einem „mythischen Mutterschooss“ (146, 14) und
geht nicht nur aus der „Tiefe“ (154, 1), sondern sogar aus einem „unzugängli-
chen Abgrunde“ (154, 3; 154, 4; vgl. 147, 3) hervor.
Die „unbewusste Metaphysik“ (148, 11) des Mythos entwirft N. in antimo-
derner Absicht. Er verschärft den alten, schon seit Rousseau voll ausgeformten
Gegensatz von „Natur“ und „moderner Cultur“ (146, 11), die er als „unruhig
auf und nieder zuckendes Culturleben“ und als „Bildungskrampf“ (146, 33 f.)
ihrem Ende entgegengehen sieht. Diesen Gegensatz von „Natur“ und „Cultur“
assoziiert er mit dem ebenfalls in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückrei-
chenden Gegensatz zwischen dem mit „Entsetzen“ wahrgenommenen „civili-
sirten Frankreich“ (146, 25) und der hoffnungsvoll hervorgehobenen „gesun-
den, uralten Kraft“ (146, 34) des auch von Wagner beschworenen „deutschen
Wesens“ (146, 22). Diesem sei schließlich, analog zu der schon früher anvisier-
ten „Wiedergeburt der Tragödie“ (103, 13f.; 129, 6f.), „die Wieder-
geburt des deutschen Mythus“ (147,11 f.) zuzutrauen. Beide „Wiederge-
burten“ sind, wie N. implizit, aber umso deutlicher zu verstehen gibt, Wagner
zu verdanken, der selbst von einer „unendlich tief begründeten Neugeburt“
sprach (Beethoven, GSD IX, 115). Die „Wiedergeburt des deutschen Mythus“
deutet auf Wagners Vorliebe für altdeutsche Sagenstoffe hin, insbesondere für
die Nibelungen-Sage (vgl. 154, 5-20).
N. konzipiert seinen „Mythus“-Begriff nicht nur grundsätzlich prärational
und gegen die „Cultur“, d. h. die moderne Zivilisation; er verleiht ihm auch
ein spezielles, auf aktuelle Phänomene reagierendes Gegenprofil, indem er im
Hinblick auf die historisierende Bildungskultur des 19. Jahrhunderts den
„Mythus“ zum schlechthin Vor- und Überhistorischen deklariert (147, 33 f.:
„zeitlos“, „Strom des Zeitlosen“). Damit stellt er ihn dem „kritisch-historischen
Geist unserer Bildung“, die nur „zersetzt“ (145, 16), und dem „historischen
Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur“ (146,11) gegenüber, die er auf
den Generalnenner „Historie und Kritik“ bringt. Vgl. hierzu schon GT 20, 130,
15-17, ferner die zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil
 
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