Stellenkommentar GT 23-25, KSA 1, S. 144-145 3 89
von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konn-
ten. - So treibt das Bedürfniß der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie
des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen
widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von
einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei
welcher ein Beisammenseyn bestehn kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte.
Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep
your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfniß gegenseitiger
Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln
nicht empfunden. - Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat bleibt lieber aus
der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen“.
23. bis 25. Kapitel
Der thematische Schwerpunkt dieser letzten drei Kapitel liegt auf dem schon
früher in einzelnen Partien traktierten „Mythus“. Anders als Wagner, der in
seinem theoretischen Hauptwerk Oper und Drama (1850/51) das Wort „Mythos“
konsequent mit der griechischen Endung verwendet, wählt N. die lateinische
Endung. Konzeptionell aber stimmt er mit dem romantischen Mythos-Begriff
Wagners überein. Dieser sieht im Mythos den Ausdruck einer unbewußten
„Volksanschaung“, die er auf naturhafte Urgegebenheiten zurückführt. Des-
halb geht N., diesem schon von Herder inaugurierten und von der Romantik
popularisierten Verständnis entsprechend, bereits in GT 6 auf das Volkslied
ein. Und er folgt Wagner auch darin, daß er den Mythus als Ergebnis eines
unbewußten und gerade deshalb auf das Wesentliche konzentrierten Verdich-
tungsvorgangs darstellt, der dem künstlerischen Gestaltungsprozess ent-
spricht. Aus dieser Hypothese folgert Wagner: „Aller Gestaltungstrieb des
Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der man-
nigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen“
(GSD IV, 32). N. übernimmt sowohl in der Tragödienschrift als auch in der
vierten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth Wag-
ners Theorie von der Verdichtung und der daraus resultierenden Repräsenta-
tion in „gedrängtester Gestalt“. In GT 23 definiert er den Mythos als „das
zusammengezogene Weltbild“ und als „Abbreviatur“ der Erscheinungwelt (145,
12 f.). In UB IV ernennt er Wagner mit seiner Mythos-Konzeption zum „Gegen-
Alexander“ (KSA 1, 447, 26) in einer, alexandrinisch4 überkomplex und disparat
gewordenen Kulturwelt und stilisiert ihn zum „Vereinfacher der Welt“
(447, 34).
N. steigert seine romantische Vorstellung vom „Mythos“ bis zur Identifika-
tion von „Musik“ und „Mythus“ im Zeichen des Dionysischen: Im Anfangssatz
von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konn-
ten. - So treibt das Bedürfniß der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie
des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen
widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von
einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei
welcher ein Beisammenseyn bestehn kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte.
Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep
your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfniß gegenseitiger
Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln
nicht empfunden. - Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat bleibt lieber aus
der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen“.
23. bis 25. Kapitel
Der thematische Schwerpunkt dieser letzten drei Kapitel liegt auf dem schon
früher in einzelnen Partien traktierten „Mythus“. Anders als Wagner, der in
seinem theoretischen Hauptwerk Oper und Drama (1850/51) das Wort „Mythos“
konsequent mit der griechischen Endung verwendet, wählt N. die lateinische
Endung. Konzeptionell aber stimmt er mit dem romantischen Mythos-Begriff
Wagners überein. Dieser sieht im Mythos den Ausdruck einer unbewußten
„Volksanschaung“, die er auf naturhafte Urgegebenheiten zurückführt. Des-
halb geht N., diesem schon von Herder inaugurierten und von der Romantik
popularisierten Verständnis entsprechend, bereits in GT 6 auf das Volkslied
ein. Und er folgt Wagner auch darin, daß er den Mythus als Ergebnis eines
unbewußten und gerade deshalb auf das Wesentliche konzentrierten Verdich-
tungsvorgangs darstellt, der dem künstlerischen Gestaltungsprozess ent-
spricht. Aus dieser Hypothese folgert Wagner: „Aller Gestaltungstrieb des
Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der man-
nigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen“
(GSD IV, 32). N. übernimmt sowohl in der Tragödienschrift als auch in der
vierten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth Wag-
ners Theorie von der Verdichtung und der daraus resultierenden Repräsenta-
tion in „gedrängtester Gestalt“. In GT 23 definiert er den Mythos als „das
zusammengezogene Weltbild“ und als „Abbreviatur“ der Erscheinungwelt (145,
12 f.). In UB IV ernennt er Wagner mit seiner Mythos-Konzeption zum „Gegen-
Alexander“ (KSA 1, 447, 26) in einer, alexandrinisch4 überkomplex und disparat
gewordenen Kulturwelt und stilisiert ihn zum „Vereinfacher der Welt“
(447, 34).
N. steigert seine romantische Vorstellung vom „Mythos“ bis zur Identifika-
tion von „Musik“ und „Mythus“ im Zeichen des Dionysischen: Im Anfangssatz