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394 Die Geburt der Tragödie

bannen - durch feste Bindung an den Mythos. „Ihr habt selbst gedichtet“, ruft
Schlegel den romantischen Dichterfreunden zu, „und Ihr müßt es oft im Dich-
ten gefühlt haben, daß es Euch an einem festen Halt für Euer Wirken gebrach,
an einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft. / Aus
dem Innern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter [...] es fehlt,
behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für
die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der anti-
ken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine
Mythologie“ (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter
Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2: Charakteristiken
und Kritiken I (1796-1801), München usw. 1967, S. 312). Schlegel fährt mit Wor-
ten fort, deren Reflexe sowohl in Wagners Schriften wie in GT wesentlich sind:
„Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig
flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die
Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu
unserm Ohre spricht“ (S. 318).
146,10-12 Worauf weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedig-
ten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen] In der
zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der His-
torie für das Leben führt N. dieses Thema weiter aus. „Nur dadurch“, schreibt
er, „dass wir uns mit fremden Zeiten, Sitten, Künsten, Philosophien, Religio-
nen, Erkenntnissen anfüllen und überfüllen, werden wir zu etwas Beachtungs-
werthem, nämlich zu wandelnden Encyclopädien“ (KSA 1, 273, 34-274, 4); und
er fährt fort: „der moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlich-
keit. Wie der Römer der Kaiserzeit [...] sich selbst unter dem einströmenden
Fremden verlor und bei dem kosmopolitischen Götter-, Sitten- und Künste-
Carnevale entartete, so muss es dem modernen Menschen ergehen, der sich
fortwährend das Fest einer Weltausstellung durch seine historischen Künstler
bereiten lässt; er ist zum geniessenden und herumwandelnden Zuschauer
geworden“ (279, 19-28). Zum 19. Jahrhundert als dem Jahrhundert der Historie
und des Historismus vgl. NK 130, 13-17.
In der zweiten Jahrhunderthälfte hatte speziell die Kulturgeschichte Hoch-
konjunktur; überall entstanden Sammlungen und Museen, oft wurde im Stil
vergangener Zeiten gemalt und gebaut. Charakteristisch war der einflußreiche
und von N. an anderer Stelle ausdrücklich genannte Wilhelm Heinrich Riehl
(1823-1897), der bekannteste deutsche Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts.
1856 veröffentlichte er seine Culturgeschichtlichen Novellen, die große öffentli-
che Resonanz fanden, 1859 folgten seine Culturstudien aus drei Jahrhunderten,
dann noch viele andere kulturgeschichtliche Publikationen. Wagner rezen-
sierte sein Neues Novellenbuch (GSD VIII, 205-213) und nahm dabei auch kri-
 
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