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J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
§ 4. Die Quellen der Vaterunser-Predigten.
Um keinen Zweifel darüber zu lassen, in welchem Umfang wir
überhaupt die Quellenfrage aufwerfen, sei mit der Feststellung be-
gonnen, daß die Augsburger Vaterunser-Auslegung eins der
originalsten Werke des Cusanus ist. Trotz des sehr verschiedenen
Umfanges steht es ebenbürtig neben ,,De Docta Ignorantia“, es ist
aus deren Geist geschaffen, gewissermaßen als die konkrete Aus-
wertung der Prinzipien, die jenes Werk beseelen. Vom Gesichts-
punkt der Quellenfrage aus gesehen, ist es von entscheidender Be-
deutung, daß Cusanus das Vaterunser als eine Ganzheit auf-
faßt, die nur eine wirklich umfassende Deutung zuläßt. In dieser
Hinsicht unterscheidet sich seine Auslegung, um nur ein Beispiel
zu nennen, grundsätzlich von der des Meisters Eckhart, der dem
Tiefsinn des Gebetes gerade damit gerecht zu werden glaubt, daß
er bei jeder Bitte möglichst viele Einzeldeutungen herauszuarbeiten
sucht und darum alle möglichen Väterzitate zusammenträgt. An
dergleichen denkt Nicolaus überhaupt nicht; er sagt ausdrück-
lich: ,,Vnd ift dijfs myne verftenteniffe des Pater Nofters zu dijfer
tzijt vnd getruwe das folche verftentenijff fülle in mir genieret
vnd vercleret werden von dage zu dage . . .“ (S. 26, 1—3). Die
einheitliche Durchführung seines Grundgedankens ist wohl der beste
Beweis für die Bichtigkeit seiner Aussage: es handelt sich um
seine Einsicht in den unergründlichen Gehalt des Herrengebetes.
Darum hat hier die Suche nach Quellen nur eine sekundäre
Bedeutung; da Cusanus ohne Zweifel andere Auslegungen ge-
lesen hat, ehe er seine eigene fand, z. B. die Cyprians, dessen
Werke er so hoch schätzte, so ist die Möglichkeit nicht von der
Hand zu weisen, daß er von daher Anregungen erhielt. Sie können
aber immer nur Einzelheiten betreffen. So weist unser Apparat
mehrfach auf die Auslegungen Cyprians und Cassians hin. Des
ersteren Werke finden sich in zwei Hss. in der Bibliothek des
Kardinals (Hs. 28 und 29); ob er aber die „Collationes“ des ge-
nannten Abtes wirklich gekannt hat oder ob es sich nur um
zufällige Parallelen handelt, läßt sich nicht entscheiden. Wichtiger
sind begreiflicherweise die Quellen, die auch für „De Docta Ig-
norantia“ maßgebend sind, vor allem etwa die Schriften des
Dionysius Areopagita. Hier handelt es sich aber um so bekannte
Dinge, daß kein weiteres Wort zu verlieren ist1.
1 Über die Beziehungen der Auslegung zur Theologie Gregors von
Nyssa vgl. weiter unten § 5 III, S. 245 f.
J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
§ 4. Die Quellen der Vaterunser-Predigten.
Um keinen Zweifel darüber zu lassen, in welchem Umfang wir
überhaupt die Quellenfrage aufwerfen, sei mit der Feststellung be-
gonnen, daß die Augsburger Vaterunser-Auslegung eins der
originalsten Werke des Cusanus ist. Trotz des sehr verschiedenen
Umfanges steht es ebenbürtig neben ,,De Docta Ignorantia“, es ist
aus deren Geist geschaffen, gewissermaßen als die konkrete Aus-
wertung der Prinzipien, die jenes Werk beseelen. Vom Gesichts-
punkt der Quellenfrage aus gesehen, ist es von entscheidender Be-
deutung, daß Cusanus das Vaterunser als eine Ganzheit auf-
faßt, die nur eine wirklich umfassende Deutung zuläßt. In dieser
Hinsicht unterscheidet sich seine Auslegung, um nur ein Beispiel
zu nennen, grundsätzlich von der des Meisters Eckhart, der dem
Tiefsinn des Gebetes gerade damit gerecht zu werden glaubt, daß
er bei jeder Bitte möglichst viele Einzeldeutungen herauszuarbeiten
sucht und darum alle möglichen Väterzitate zusammenträgt. An
dergleichen denkt Nicolaus überhaupt nicht; er sagt ausdrück-
lich: ,,Vnd ift dijfs myne verftenteniffe des Pater Nofters zu dijfer
tzijt vnd getruwe das folche verftentenijff fülle in mir genieret
vnd vercleret werden von dage zu dage . . .“ (S. 26, 1—3). Die
einheitliche Durchführung seines Grundgedankens ist wohl der beste
Beweis für die Bichtigkeit seiner Aussage: es handelt sich um
seine Einsicht in den unergründlichen Gehalt des Herrengebetes.
Darum hat hier die Suche nach Quellen nur eine sekundäre
Bedeutung; da Cusanus ohne Zweifel andere Auslegungen ge-
lesen hat, ehe er seine eigene fand, z. B. die Cyprians, dessen
Werke er so hoch schätzte, so ist die Möglichkeit nicht von der
Hand zu weisen, daß er von daher Anregungen erhielt. Sie können
aber immer nur Einzelheiten betreffen. So weist unser Apparat
mehrfach auf die Auslegungen Cyprians und Cassians hin. Des
ersteren Werke finden sich in zwei Hss. in der Bibliothek des
Kardinals (Hs. 28 und 29); ob er aber die „Collationes“ des ge-
nannten Abtes wirklich gekannt hat oder ob es sich nur um
zufällige Parallelen handelt, läßt sich nicht entscheiden. Wichtiger
sind begreiflicherweise die Quellen, die auch für „De Docta Ig-
norantia“ maßgebend sind, vor allem etwa die Schriften des
Dionysius Areopagita. Hier handelt es sich aber um so bekannte
Dinge, daß kein weiteres Wort zu verlieren ist1.
1 Über die Beziehungen der Auslegung zur Theologie Gregors von
Nyssa vgl. weiter unten § 5 III, S. 245 f.