Zweites Kapitel: Literarhistorische Untersuchung. §4.
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Bei der Wiener Predigt liegt die Quellenfrage natürlich
genau so, da sie ja die Augsburger zur Vorlage hat. Freilich weist
er ausdrücklich auf die Unterweisungen der „heiligen Lehrer4'* über
das Vaterunser hin (S. 100, lOf.); aber auch hier ließen sich nur
einige Parallelen zu Cyprian, Augustin und Cassian feststellen.
Interessant ist, was sich hier an sonstigen Quellen nachweisen läßt,
so Augustins „Confessiones“, Anselms „Cur Deus homo ?“ und
Gratians „Decretum“ (richtig: „Concordia discordantium cano-
num“). So bietet die Predigt ein kleines Bild von dem geistigen
Besitz, über den der Kardinal verfügte. Eine Schwierigkeit be-
reitet der Hinweis auf „die geiftlichen recht“ in n. 26 (S. 116, 29).
Faktisch enthalten die alten Bußbücher verschiedene Strafbestim-
mungen für die Beleidigung der Eltern und der Geschwister. Frag-
lich ist nur, woher Cusanus diese Dinge kannte; denn in den
„Summae confessorum“, die später an die Stelle der Bußbücher
traten und auch in der Bibliothek des Kardinals vorhanden sind,
ist nichts dergleichen mehr zu finden.
Unter dem Gesichtspunkt der Quellenfrage muß man bei der
letzten Vater unser -Predigt (Pr. CLXXXXIV) drei Teile unter-
scheiden. Der erste umfaßt n. 2—5, der zweite n. 6—10, der dritte
die eigentliche Vaterunser-Erklärung, n. 11—17.
Schon den Mitarbeitern des Farer Stapulensis, die Vat. lat.
1244 und 1245 für die Excitationes exzerpierten, fiel auf, daß der
erste Teil nicht cusanisch sei, und notierten an den Band: „videtur
alienum“. Der Tenor des ganzen Abschnittes, namentlich auch die
eingestreuten ARiSTOTELES-Zitate, legte die Vermutung nahe, daß
es sich um einen Text aus einer Predigt des Aldorrandinus de
Tuscanella handelt, dessen Predigtwerk Cusanus in seinen spä-
teren Jahren oft verwertet hat. Die von mir benutzte Breslauer
Hs. I. F. 724 enthält nun zwar nur eine genaue Parallele zu n. 5
(S. 126, 5ff.); auch P. Thomas Kaeppeli 0. P„ dem wir eine
erstmalige genauere Untersuchung der handschriftlichen Überliefe-
rung der Werke seines Ordensbruders verdanken1, konnte mir aus
der Hs. C. 6. 1701 der Biblioteca Nazionale in Florenz nur eine
im Wortlaut etwas abweichende Parallele zu demselben Teil-
abschnitt mitteilen. Wegen der Gleichheit der Darstellung und
Beweisführung in n. 2—4 dürfen wir hier aber wohl vom Teil aufs
Ganze schließen und behaupten, daß der ganze Abschnitt aus der
1 Thomas Kaeppeli La tradizione manoscritta delle opere di Aldo-
brandino da Toscanella, Arch. Fr. Praed. 8 (1938), S. 163—192.
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Bei der Wiener Predigt liegt die Quellenfrage natürlich
genau so, da sie ja die Augsburger zur Vorlage hat. Freilich weist
er ausdrücklich auf die Unterweisungen der „heiligen Lehrer4'* über
das Vaterunser hin (S. 100, lOf.); aber auch hier ließen sich nur
einige Parallelen zu Cyprian, Augustin und Cassian feststellen.
Interessant ist, was sich hier an sonstigen Quellen nachweisen läßt,
so Augustins „Confessiones“, Anselms „Cur Deus homo ?“ und
Gratians „Decretum“ (richtig: „Concordia discordantium cano-
num“). So bietet die Predigt ein kleines Bild von dem geistigen
Besitz, über den der Kardinal verfügte. Eine Schwierigkeit be-
reitet der Hinweis auf „die geiftlichen recht“ in n. 26 (S. 116, 29).
Faktisch enthalten die alten Bußbücher verschiedene Strafbestim-
mungen für die Beleidigung der Eltern und der Geschwister. Frag-
lich ist nur, woher Cusanus diese Dinge kannte; denn in den
„Summae confessorum“, die später an die Stelle der Bußbücher
traten und auch in der Bibliothek des Kardinals vorhanden sind,
ist nichts dergleichen mehr zu finden.
Unter dem Gesichtspunkt der Quellenfrage muß man bei der
letzten Vater unser -Predigt (Pr. CLXXXXIV) drei Teile unter-
scheiden. Der erste umfaßt n. 2—5, der zweite n. 6—10, der dritte
die eigentliche Vaterunser-Erklärung, n. 11—17.
Schon den Mitarbeitern des Farer Stapulensis, die Vat. lat.
1244 und 1245 für die Excitationes exzerpierten, fiel auf, daß der
erste Teil nicht cusanisch sei, und notierten an den Band: „videtur
alienum“. Der Tenor des ganzen Abschnittes, namentlich auch die
eingestreuten ARiSTOTELES-Zitate, legte die Vermutung nahe, daß
es sich um einen Text aus einer Predigt des Aldorrandinus de
Tuscanella handelt, dessen Predigtwerk Cusanus in seinen spä-
teren Jahren oft verwertet hat. Die von mir benutzte Breslauer
Hs. I. F. 724 enthält nun zwar nur eine genaue Parallele zu n. 5
(S. 126, 5ff.); auch P. Thomas Kaeppeli 0. P„ dem wir eine
erstmalige genauere Untersuchung der handschriftlichen Überliefe-
rung der Werke seines Ordensbruders verdanken1, konnte mir aus
der Hs. C. 6. 1701 der Biblioteca Nazionale in Florenz nur eine
im Wortlaut etwas abweichende Parallele zu demselben Teil-
abschnitt mitteilen. Wegen der Gleichheit der Darstellung und
Beweisführung in n. 2—4 dürfen wir hier aber wohl vom Teil aufs
Ganze schließen und behaupten, daß der ganze Abschnitt aus der
1 Thomas Kaeppeli La tradizione manoscritta delle opere di Aldo-
brandino da Toscanella, Arch. Fr. Praed. 8 (1938), S. 163—192.