212 J. Koch und H. Teske Gusanus-Texte: I. Predigten, 6.
des Weltgeschehens in den Worten des Gebetes zum Ausdruck
kommen, wird in n. 4 dargelegt. Die Deutung des Vaterunsers, die
in diesem Aufriß sichtbar wird, findet sich — soweit ich weiß -—
nicht in den älteren Erklärungen, sondern ist Cusanus eigentüm-
lich. Die Theologen des Altertums und des Mittelalters stimmen
darin überein, daß das Herrengebet grundlegende Wahrheiten der
christlichen Lehre zu einer Einheit zusammenfaßt. Cusanus scheint
aber der erste zu sein, der die ganze christliche Lehre in den Worten
dieses Gebetes wiederfinden will. Freilich liegt sie darin nicht für
jedes Auge offen, sondern erschließt sich nur der vom Glauben
erleuchteten Einsicht.
Die Bedeutung dieser ersten Stufe der inhaltlichen Disposition
wird nun noch deutlicher, wenn wir sie der zweiten (n. 5) gegen-
überstellen. Hier wird nämlich der Lehrgehalt des Vaterunsers auf
uns Menschen bezogen. Der Unterschied zwischen den beiden
Stufen der Disposition wird in den verschiedenen Formulierungen
deutlich. In n. 4 wird festgestellt: ,,Der orfprunck, das ift die
gotlike nature, ift in den Worten . . .“ (S. 26, 17); in n. 5 hingegen:
,,Der orfprung ift vns vffgedaen in eyme glauben in den
Worten . . .“ (S. 28, 4). Auf der ersten Stufe wird das Weltgeschehen
von seiten Gottes betrachtet: er ist der Anbeginn und Ursprung
aller Dinge, von ihm fließen sie aus, er ist (in Christus) das Mittel
des Rückflusses und das Endziel des ganzen Prozesses. Auf der
zweiten Stufe wird die Bedeutung des göttlichen Seins und Wir-
kens für uns Menschen aufgezeigt. Da nun gerade bei den ersten
drei Artikeln von Glaube, Hoffnung und Verlangen die Rede ist,
so könnte man zunächst denken, daß hier nur die formale mit der
inhaltlichen Disposition verbunden wird. Das ist aber nicht richtig.
Alle drei Habitus sind hier in einem besondern Sinn genommen.
Der Glaube ist hier zunächst ausschließlich auf Gott bezogen; wie
Gott der Ursprung von allem ist, so ist der Glaube an ihn der Ur-
sprung des christlichen Lebens1. Mit dem Glauben muß sich nun
das „hoffen des verstentenis“ (S. 28, 5) verbinden, d. h. die Hoff-
nung auf eine tiefere Einsicht in die uns geoffenbarten Geheim-
nisse. Wir hoffen, wie Cusanus in n. 13 (S. 38, 17ff.) ausführt,
1 Yg'l. Richard von St. Victor, De trinitate, prologus, PL 196, 889:
„Vita itaque ex fide, et vita ex cognitione. Ex fide vita interna, ex cogni-
tione vita aeterna. Ex fide vita illa qua interim vivimus bene, ex cognitione
vita qua in futuro vivemus beate: fides itaque totius boni initium est atque
fundamentum.“
des Weltgeschehens in den Worten des Gebetes zum Ausdruck
kommen, wird in n. 4 dargelegt. Die Deutung des Vaterunsers, die
in diesem Aufriß sichtbar wird, findet sich — soweit ich weiß -—
nicht in den älteren Erklärungen, sondern ist Cusanus eigentüm-
lich. Die Theologen des Altertums und des Mittelalters stimmen
darin überein, daß das Herrengebet grundlegende Wahrheiten der
christlichen Lehre zu einer Einheit zusammenfaßt. Cusanus scheint
aber der erste zu sein, der die ganze christliche Lehre in den Worten
dieses Gebetes wiederfinden will. Freilich liegt sie darin nicht für
jedes Auge offen, sondern erschließt sich nur der vom Glauben
erleuchteten Einsicht.
Die Bedeutung dieser ersten Stufe der inhaltlichen Disposition
wird nun noch deutlicher, wenn wir sie der zweiten (n. 5) gegen-
überstellen. Hier wird nämlich der Lehrgehalt des Vaterunsers auf
uns Menschen bezogen. Der Unterschied zwischen den beiden
Stufen der Disposition wird in den verschiedenen Formulierungen
deutlich. In n. 4 wird festgestellt: ,,Der orfprunck, das ift die
gotlike nature, ift in den Worten . . .“ (S. 26, 17); in n. 5 hingegen:
,,Der orfprung ift vns vffgedaen in eyme glauben in den
Worten . . .“ (S. 28, 4). Auf der ersten Stufe wird das Weltgeschehen
von seiten Gottes betrachtet: er ist der Anbeginn und Ursprung
aller Dinge, von ihm fließen sie aus, er ist (in Christus) das Mittel
des Rückflusses und das Endziel des ganzen Prozesses. Auf der
zweiten Stufe wird die Bedeutung des göttlichen Seins und Wir-
kens für uns Menschen aufgezeigt. Da nun gerade bei den ersten
drei Artikeln von Glaube, Hoffnung und Verlangen die Rede ist,
so könnte man zunächst denken, daß hier nur die formale mit der
inhaltlichen Disposition verbunden wird. Das ist aber nicht richtig.
Alle drei Habitus sind hier in einem besondern Sinn genommen.
Der Glaube ist hier zunächst ausschließlich auf Gott bezogen; wie
Gott der Ursprung von allem ist, so ist der Glaube an ihn der Ur-
sprung des christlichen Lebens1. Mit dem Glauben muß sich nun
das „hoffen des verstentenis“ (S. 28, 5) verbinden, d. h. die Hoff-
nung auf eine tiefere Einsicht in die uns geoffenbarten Geheim-
nisse. Wir hoffen, wie Cusanus in n. 13 (S. 38, 17ff.) ausführt,
1 Yg'l. Richard von St. Victor, De trinitate, prologus, PL 196, 889:
„Vita itaque ex fide, et vita ex cognitione. Ex fide vita interna, ex cogni-
tione vita aeterna. Ex fide vita illa qua interim vivimus bene, ex cognitione
vita qua in futuro vivemus beate: fides itaque totius boni initium est atque
fundamentum.“