Drittes Kapitel: Erläuterungen. § 1.
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daß der Vater uns erleuchtet, damit wir zu einer Erkenntnis Gottes
kommen, die über aller Erkenntnis liegt1. Mit solchem Glauben
und solcher Hoffnung muß sich dann die ,,begir des gudes“ ver-
binden, d. h. das Verlangen nach Gott als dem höchsten Gut (vgl.
n. 15, S. 40f.)* Hiermit ist unsere Erkenntnis- und Lebensordnung
grundgelegt. Wir müssen aber auch die Ordnung der Geschöpfe
kennen, um zu wissen, welchen Platz wir selbst unter ihnen ein-
nehmen. Dieser Platz ist aber sozusagen nur vorübergehend: wir
sind auf der Wanderung zu Gott und bedürfen darum eines kräf-
tigen Mittels, ohne das wir nicht zum Ziel kommen. Es ist in seiner
vierfachen Form ganz unserem Zustand als Wanderer angepaßt:
wir bedürfen der Speise, ein Hindernis muß beseitigt werden, wir
haben einen Wegweiser und Schutz nötig (S. 28, 9ff.). Das Endziel
unserer Wanderung ist Gott als das Gut.
Die ganze Disposition wird im ersten Satz von n. 6 zusammen-
gefaßt: 1. das Vaterunser umschließt Natur, Gnade und Glorie;
damit ist in einer sehr geläufigen theologischen Formulierung alles
angedeutet, was Gott wirkt. Er ist der Schöpfer der Natur, er
schenkt die Gnade und Glorie. 2. Das Vaterunser enthält alles,
was der Mensch zu wissen verlangt, soweit uns das auf dieser Erde
möglich ist. Damit wird nochmals auf die vorher auf der zweiten
Stufe der Disposition entwickelte Erkenntnis- und Lebensordnung
hingewiesen. 3. All das ist nun, wie Cusanus nicht ohne Grund
hinzufügt, im Vaterunser enthalten „in der ordenung, als die meifter
von den hochften fynnen das begrifen mögen“ (S. 28, 20). Da „die
meifter von den hochften fynnen“ die Theologen sind, so kenn-
zeichnet er damit seine Auslegung unzweideutig als theologisches
Werk.
Der besondere Reiz der cusanischen Vaterunser-Auslegung
beruht nun — abgesehen von der innern Struktur des Ganzen, von
der nachher die Rede sein wird — auf zwei Kunstgriffen. Der erste
ist die lebendige Gegenüberstellung von Gott und Mensch.
Entsprechend den beiden Stufen der inhaltlichen Disposition hat
die Darstellung sozusagen ständig zwei Ausgangspunkte; der Rlick
des Verfassers geht hin und her zwischen Himmel und Erde, zwi-
schen dem Reich Gottes und dem irdischen Reich der Sinnlichkeit,
zwischen Gott, der allein das begehrenswerteste und oberste Gut
ist, und uns Menschen, die wir von uns aus Kinder des Zornes,
1 Ein Grundgedanke von De Docta Ignorantia: incomprehensibiliter con-
templari; vgl. III c. 11, S. 153, 2.
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daß der Vater uns erleuchtet, damit wir zu einer Erkenntnis Gottes
kommen, die über aller Erkenntnis liegt1. Mit solchem Glauben
und solcher Hoffnung muß sich dann die ,,begir des gudes“ ver-
binden, d. h. das Verlangen nach Gott als dem höchsten Gut (vgl.
n. 15, S. 40f.)* Hiermit ist unsere Erkenntnis- und Lebensordnung
grundgelegt. Wir müssen aber auch die Ordnung der Geschöpfe
kennen, um zu wissen, welchen Platz wir selbst unter ihnen ein-
nehmen. Dieser Platz ist aber sozusagen nur vorübergehend: wir
sind auf der Wanderung zu Gott und bedürfen darum eines kräf-
tigen Mittels, ohne das wir nicht zum Ziel kommen. Es ist in seiner
vierfachen Form ganz unserem Zustand als Wanderer angepaßt:
wir bedürfen der Speise, ein Hindernis muß beseitigt werden, wir
haben einen Wegweiser und Schutz nötig (S. 28, 9ff.). Das Endziel
unserer Wanderung ist Gott als das Gut.
Die ganze Disposition wird im ersten Satz von n. 6 zusammen-
gefaßt: 1. das Vaterunser umschließt Natur, Gnade und Glorie;
damit ist in einer sehr geläufigen theologischen Formulierung alles
angedeutet, was Gott wirkt. Er ist der Schöpfer der Natur, er
schenkt die Gnade und Glorie. 2. Das Vaterunser enthält alles,
was der Mensch zu wissen verlangt, soweit uns das auf dieser Erde
möglich ist. Damit wird nochmals auf die vorher auf der zweiten
Stufe der Disposition entwickelte Erkenntnis- und Lebensordnung
hingewiesen. 3. All das ist nun, wie Cusanus nicht ohne Grund
hinzufügt, im Vaterunser enthalten „in der ordenung, als die meifter
von den hochften fynnen das begrifen mögen“ (S. 28, 20). Da „die
meifter von den hochften fynnen“ die Theologen sind, so kenn-
zeichnet er damit seine Auslegung unzweideutig als theologisches
Werk.
Der besondere Reiz der cusanischen Vaterunser-Auslegung
beruht nun — abgesehen von der innern Struktur des Ganzen, von
der nachher die Rede sein wird — auf zwei Kunstgriffen. Der erste
ist die lebendige Gegenüberstellung von Gott und Mensch.
Entsprechend den beiden Stufen der inhaltlichen Disposition hat
die Darstellung sozusagen ständig zwei Ausgangspunkte; der Rlick
des Verfassers geht hin und her zwischen Himmel und Erde, zwi-
schen dem Reich Gottes und dem irdischen Reich der Sinnlichkeit,
zwischen Gott, der allein das begehrenswerteste und oberste Gut
ist, und uns Menschen, die wir von uns aus Kinder des Zornes,
1 Ein Grundgedanke von De Docta Ignorantia: incomprehensibiliter con-
templari; vgl. III c. 11, S. 153, 2.