222
J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
Evangelisten: 'panem nostrum supersubstantialen’ (Matth. 6, 11)
und 'panem nostrum cottidianum’ (Luc. 11, 3) bezieht. So wenig
der Kardinal aber die himmlische Natur des Menschen mit seiner
Seele und die irdische mit seinem Leib identifiziert1, so wenig
kommt für ihn eine solche Deutung in Betracht. Von der Nah-
rung des Leibes ist — wie wir sehen werden2 — überhaupt nur
ganz nebenbei die Rede. Die Bitte hat einen ganz anderen Sinn:
wir bitten um die Speise des Lebens, ,,die uns die Kraft ver-
leihen soll, uns des Todes und der Gebrechlichkeit zu erwehren“
(S. 54, 17). Diese Speise ist nun nicht etwa für jede der beiden
Naturen verschieden, sondern nur eine, nämlich Christus. Ver-
schieden ist aber die Beziehung der beiden Naturen zu Gott: un-
serer himmlischen Natur nach sind wir Gott nahe; insofern aber
mit ihr eine widerstrebende irdische Natur verbunden ist, sind wir
Wanderer, die zwar zu Gott hinstreben, ihm aber noch fern sind.
Nun fragt es sich: inwiefern ist Christus die Lebensspeise für unsere
himmlische Natur? Und inwiefern für uns als Erdenpilger?
Um die Antworten des Cusanus zu verstehen, müssen wir
auf das zurückgreifen, was er über das Verhältnis der himmlischen
und der irdischen Natur zueinander sagt. Die himmlische (gei-
stige oder vernünftige) Natur umfaßt in sich ein geistiges Wesen
und die ihm entsprechenden Kräfte, Vernunft und Wille. Diese
Trias ist nun in dreifacher Weise auf Gott bezogen: final durch die
„Hinneigung“, d. h. die innere Anlage des Wesens zur Ewigkeit
und Unsterblichkeit, der Vernunft zur Wahrheit, des Willens
zum Guten; formal als Abglanz der himmlischen Dreieinigkeit,
insofern dem Vater die Ewigkeit, dem Sohn die Wahrheit und dem
Hl. Geist das Gute in besonderer Weise zugeschrieben wird; wirk-
ursächlich, insofern die dreifache Hinneigung ein Ausfluß der
drei göttlichen Personen ist (n. 21)3.
Die irdische Natur umfaßt an und für sich alles, was unter
dem Menschen ist: die Elemente, Minerale, Pflanzen und Sinnes-
wesen (n. 20). Insofern sie aber ein Teil des Menschenwesens ist,
1 Ygl. n. 22, S. 52, 10ff.: ,,Nu ift das die menfchlich nature vereiniget
von der hymellichen vnd ertrichlen naturen findet in dem geift fyner feien
die hymelfche neigung“ usw. De coniecturis II c. 14. — DasTmema zwischen
der himmlischen und der irdischen Natur des Menschen geht gleichsam mitten
durch seine Seele hindurch, insofern sie sowohl geistige als sinnliche Kräfte hat.
2 S. 224.
3 S. 52, 6ff. werden allerdings nur die zweite und dritte Person genannt.
Für die erste ergibt sich das Gesagte aber aus der Logik der Sache.
J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
Evangelisten: 'panem nostrum supersubstantialen’ (Matth. 6, 11)
und 'panem nostrum cottidianum’ (Luc. 11, 3) bezieht. So wenig
der Kardinal aber die himmlische Natur des Menschen mit seiner
Seele und die irdische mit seinem Leib identifiziert1, so wenig
kommt für ihn eine solche Deutung in Betracht. Von der Nah-
rung des Leibes ist — wie wir sehen werden2 — überhaupt nur
ganz nebenbei die Rede. Die Bitte hat einen ganz anderen Sinn:
wir bitten um die Speise des Lebens, ,,die uns die Kraft ver-
leihen soll, uns des Todes und der Gebrechlichkeit zu erwehren“
(S. 54, 17). Diese Speise ist nun nicht etwa für jede der beiden
Naturen verschieden, sondern nur eine, nämlich Christus. Ver-
schieden ist aber die Beziehung der beiden Naturen zu Gott: un-
serer himmlischen Natur nach sind wir Gott nahe; insofern aber
mit ihr eine widerstrebende irdische Natur verbunden ist, sind wir
Wanderer, die zwar zu Gott hinstreben, ihm aber noch fern sind.
Nun fragt es sich: inwiefern ist Christus die Lebensspeise für unsere
himmlische Natur? Und inwiefern für uns als Erdenpilger?
Um die Antworten des Cusanus zu verstehen, müssen wir
auf das zurückgreifen, was er über das Verhältnis der himmlischen
und der irdischen Natur zueinander sagt. Die himmlische (gei-
stige oder vernünftige) Natur umfaßt in sich ein geistiges Wesen
und die ihm entsprechenden Kräfte, Vernunft und Wille. Diese
Trias ist nun in dreifacher Weise auf Gott bezogen: final durch die
„Hinneigung“, d. h. die innere Anlage des Wesens zur Ewigkeit
und Unsterblichkeit, der Vernunft zur Wahrheit, des Willens
zum Guten; formal als Abglanz der himmlischen Dreieinigkeit,
insofern dem Vater die Ewigkeit, dem Sohn die Wahrheit und dem
Hl. Geist das Gute in besonderer Weise zugeschrieben wird; wirk-
ursächlich, insofern die dreifache Hinneigung ein Ausfluß der
drei göttlichen Personen ist (n. 21)3.
Die irdische Natur umfaßt an und für sich alles, was unter
dem Menschen ist: die Elemente, Minerale, Pflanzen und Sinnes-
wesen (n. 20). Insofern sie aber ein Teil des Menschenwesens ist,
1 Ygl. n. 22, S. 52, 10ff.: ,,Nu ift das die menfchlich nature vereiniget
von der hymellichen vnd ertrichlen naturen findet in dem geift fyner feien
die hymelfche neigung“ usw. De coniecturis II c. 14. — DasTmema zwischen
der himmlischen und der irdischen Natur des Menschen geht gleichsam mitten
durch seine Seele hindurch, insofern sie sowohl geistige als sinnliche Kräfte hat.
2 S. 224.
3 S. 52, 6ff. werden allerdings nur die zweite und dritte Person genannt.
Für die erste ergibt sich das Gesagte aber aus der Logik der Sache.