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Drittes Kapitel: Erläuterungen. §5.

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II. Einheit und Ordnung in der Theologie.
Es ist begreiflich, daß ein so kleines Werk, welches „die nature,
die gnade vnd die glorie vnd alles das der menfch begert zu willen“
(28, 18f.) behandeln soll, auf keinen Punkt ausführlich eingehen
kann. Damit ist aber die Gefahr der Oberflächlichkeit in bedroh-
liche Nähe gerückt. Cusanus erkennt klar, daß sie nur durch
zwei Mittel vermieden werden kann: straffe Einheit und Ord-
nung in der Entwicklung der theologischen Lehren. Bei der Unter-
suchung der formalen und inhaltlichen Disposition und dem Nach-
weis der harmonischen Struktur des Werkes haben wir bereits
mancherlei über beide Darstellungsmittel gesagt. Jetzt tritt aber
ein neuer Gesichtspunkt in den Vordergrund: der theologische.
Wir können die hier zu beantwortenden Fragen so formulieren:
1. Mit welchen Mitteln gelingt es Cusanus, in seiner Vaterunser-
Auslegung ein einheitliches theologisches System aufzubauen ?
2. In welcher Ordnung entwickelt er die theologischen Lehren ?
1. Die theologische Einheit des Werkes wird mit drei
Mitteln erreicht: Einheit des Ganzen in der Lehre von Christus als
der beherrschenden Mitte der Schöpfung; Einheit des einzelnen
Gliedes (Artikels) in der Einheit seines'Sinnes; Verknüpfung der
Glieder untereinander durch die Einheit bestimmter Begriffe. Wir
können gleich vom zweiten Mittel sprechen, da über das erste in
§ 2 genug gesagt ist.
Die Exegeten des Mittelalters vertreten durchweg die Lehre
vom mehrfachen Schriftsinn. Ein naheliegendes Beispiel bieten die
Werke Meister Eckharts, der fast überall den Bibeltext mehrfach
deutet und gelegentlich bis zu zwanzig verschiedenen Auslegungen
derselben Stelle vorlegt, damit der Leser die Möglichkeit habe, nach
Belieben bald diese, bald jene Auslegung in Predigt und Unterricht
zu verwerten1. Auch seine Vaterunser-Auslegung ist in diesem Stil
geschrieben. Dem gegenüber nimmt Cusanus grundsätzlich
nur einen Sinn an. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten bei
der Auslegung der Brotbitte, die einheitlich auf Christus bezogen
ist. Diese Haltung hängt natürlich damit zusammen, daß Cusanus
das Herrengebet als Einheit und Ganzheit auffaßt; sie hat aber
doch wohl ihre tiefere Wurzel in seinem historischen Verständnis,
von dem „De Concordantia Catholica“ so beredtes Zeugnis ablegt2.
1 Ygl. M. Echardus Expositio s. ev. sec. Iohannem, ed. G. Christ et
I. Koch (Lat. Werke III), n. 39, S. 33, 6ff.
2 Dieser historische Sinn zeigt sich ja auch in andern kleinen Zügen;
 
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