Drittes Kapitel: Erläuterungen. §5.
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der Theologie nie ausgeführt hat. Inmitten des mit Spitzfindig-
keiten überladenen, aber an echter Theologie armen Schrifttums
des mittelalterlichen Herbstes wäre eine cusanische Theologie wie
der Bote eines neuen Frühlings gewesen. In seinen lateinischen
Predigten haben wir nur einen sehr unvollkommenen Ersatz: sie
gleichen in ihrer Gesamtheit einem sehr ungleichmäßig bestellten
Feld, wo es neben reifer Frucht auch dürre Strecken gibt.
III. Beziehungen zur griechischen Theo Jogi e.
Im Hinblick auf die engen zeitlichen und sachlichen Zusammen-
hänge zwischen ,,De Docta Ignorantia“ und der Vaterunser-Aus-
legung kann man wohl mit Grund behaupten, daß für beide die-
selben Quellen anzunehmen sind1. Nun haben sich aber im Laufe
der Untersuchung höchst bemerkenswerte Beziehungen zur Theo-
logie Gregors von Nyssa herausgestellt, die uns vor ein neues
Problem stellen.
In der Vaterunser-Auslegung des Kappadoziers finden sich drei
Texterklärungen, die in ähnlicher Weise bei Cusanus wiederkehren.
Eine ist allerdings nicht Eigentum Gregors, sondern offenbar
Gemeingut der griechischen Theologie, nämlich die Deutung des
Menschen als des 'Und’ zwischen Himmel und Erde2. Dieser Ge-
danke findet sich auch bei Gregor von Nazianz3, Maximus Con-
fessor4 und Johannes Damascenus5. Von Maximus übernimmt
Eriugena6 den Gedanken, und dieser ist vermutlich die Quelle
für Cusanus. An den beiden andern Stellen dürfte es sich, soweit
ich sehe, um Sondergut Gregors handeln.
Wie Cusanus, so deutet er in seiner 3. Rede über das Herren-
gebet7 das Reich auf den Hl. Geist und beruft sich dafür auf die
bekannte Variante zu Luk. 11,2: ’EXFstco to ccyiov nveupa aou scp’ yjjxocc;
xou xaFaptaaxco 7)pa<;. „Was Lukas als Heiligen Geist bezeichnet, das
nannte Matthäus Reich.“ Freilich ergibt sich bei näherm Vergleich
bald die Verschiedenheit zwischen der Exegese des Griechen und
der des Lateiners: bei jenem wiegt noch in ßoccnkstoc der Begriff
der Herrschaft vor, während dieser „rieh“ als „vereynigung“ deutet.
1 Vgl. oben S. 204.
2 De Oratione Dominica or. 4, PG 44, 1165.
3 Oratio 38, n. 10f., PG 36, 321.
4 Ambigua in Gregorium Nazianzenum c. 37, PG 91, 1305.
5 De fide orthodoxa II c. 12, PG 94, 917. 920.
6 Ygl. oben S. 50 Anm. 2.
7 De Oratione Dominica or. 3, PG 44, 1157.
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der Theologie nie ausgeführt hat. Inmitten des mit Spitzfindig-
keiten überladenen, aber an echter Theologie armen Schrifttums
des mittelalterlichen Herbstes wäre eine cusanische Theologie wie
der Bote eines neuen Frühlings gewesen. In seinen lateinischen
Predigten haben wir nur einen sehr unvollkommenen Ersatz: sie
gleichen in ihrer Gesamtheit einem sehr ungleichmäßig bestellten
Feld, wo es neben reifer Frucht auch dürre Strecken gibt.
III. Beziehungen zur griechischen Theo Jogi e.
Im Hinblick auf die engen zeitlichen und sachlichen Zusammen-
hänge zwischen ,,De Docta Ignorantia“ und der Vaterunser-Aus-
legung kann man wohl mit Grund behaupten, daß für beide die-
selben Quellen anzunehmen sind1. Nun haben sich aber im Laufe
der Untersuchung höchst bemerkenswerte Beziehungen zur Theo-
logie Gregors von Nyssa herausgestellt, die uns vor ein neues
Problem stellen.
In der Vaterunser-Auslegung des Kappadoziers finden sich drei
Texterklärungen, die in ähnlicher Weise bei Cusanus wiederkehren.
Eine ist allerdings nicht Eigentum Gregors, sondern offenbar
Gemeingut der griechischen Theologie, nämlich die Deutung des
Menschen als des 'Und’ zwischen Himmel und Erde2. Dieser Ge-
danke findet sich auch bei Gregor von Nazianz3, Maximus Con-
fessor4 und Johannes Damascenus5. Von Maximus übernimmt
Eriugena6 den Gedanken, und dieser ist vermutlich die Quelle
für Cusanus. An den beiden andern Stellen dürfte es sich, soweit
ich sehe, um Sondergut Gregors handeln.
Wie Cusanus, so deutet er in seiner 3. Rede über das Herren-
gebet7 das Reich auf den Hl. Geist und beruft sich dafür auf die
bekannte Variante zu Luk. 11,2: ’EXFstco to ccyiov nveupa aou scp’ yjjxocc;
xou xaFaptaaxco 7)pa<;. „Was Lukas als Heiligen Geist bezeichnet, das
nannte Matthäus Reich.“ Freilich ergibt sich bei näherm Vergleich
bald die Verschiedenheit zwischen der Exegese des Griechen und
der des Lateiners: bei jenem wiegt noch in ßoccnkstoc der Begriff
der Herrschaft vor, während dieser „rieh“ als „vereynigung“ deutet.
1 Vgl. oben S. 204.
2 De Oratione Dominica or. 4, PG 44, 1165.
3 Oratio 38, n. 10f., PG 36, 321.
4 Ambigua in Gregorium Nazianzenum c. 37, PG 91, 1305.
5 De fide orthodoxa II c. 12, PG 94, 917. 920.
6 Ygl. oben S. 50 Anm. 2.
7 De Oratione Dominica or. 3, PG 44, 1157.