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Wahle, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1940/41, 2. Abhandlung): Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen: Grenzen der frühgeschichtlichen Erkenntnis. 1 — Heidelberg, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.42021#0090
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E. Wahle:

auf ein spätrömisches Netzglas zurückgellt. Man würde auf den
Gedanken, diese beiden ebenso geläufigen wie voneinander unter-
schiedenen Formen zu verknüpfen, nicht kommen, wenn es nicht
zwischen ihnen ein vereinzeltes Bindeglied gäbe1. Aber die Selten-
heit dieses letzteren besagt, daß der Weg von dem spätrömischen
Glas zu dem fränkischen nur sehr kurz gewesen sein muß; hier
ist also nicht eine überkommene Form langsam — um nicht zu
sagen: unbewußt — weitergebildet worden, sondern es schaltet sich
deutlich eine Werkstatt ein, welche das spätrömische Stück ledig-
lich zur Anregung nimmt und in Kürze daraus etwas Neues formt.
Genau dasselbe ist in bezug auf das eigenartigste Glas der Fall,
welches der merowingische Kulturkreis hervorgebracht hat, näm-
lich den Rüsselbecher2. Hier gibt es auf der einen Seite nur die
fertige, den Reihengräbern entstammende Form, und auf der an-
deren das spätrömisch-kölnische Konchylienglas. Die auf der
Außenwand des letzteren begegnenden Delphine sind das Vorbild
der „Rüssel“, welches die fränkische Zeit in einer ihr eigenen Art
einem schlanken Becher ansetzt. Im Vergleich mit der Verbrei-
tung dieser merowingischen Form, die von der Seine bis nach
Upsala und von dem nördlichen England bis Bayerisch Schwaben
begegnet, ist ihre Variationsbreite so gering, daß an die Herkunft
aller Stücke aus einem einzigen kleinen Fabrikationsraum gedacht
wird. Gegenüber dieser Einheitlichkeit fällt auch hier wieder auf,
daß eine Möglichkeit der kontinuierlichen Ableitung des Rüssel-
bechers von einer Vorform fehlt. Die Selbständigkeit der Leistung,
die sich somit ergibt, erfährt dadurch keine Schmälerung, daß ein
Formelement spätrömischer Glasindustrie dabei Verwendung fin-
det; denn der Delphin mußte ja keineswegs diese Entwicklung
nehmen, sondern er wurde aus der Fülle der verschiedenartigsten
Motive herausgegriffen.
Wie auch hier ein Meister etwas Neues schuf, so war nicht
minder auf dem Gebiete der Metallindustrie Gelegenheit vorhan-
den, ein besonderes Können zu zeigen. In der Art, wie Kerb-
schnitt und Zelleneinlage in den Reihengräberfeldern begegnen,
kommt die Auseinandersetzung mit denjenigen Anregungen zur
Geltung, welche die vorausgegangene Völkerwanderung dieser
Folgezeit hinterläßt. Die Häufung des neuen Formengutes zu dem
1 Germania 13. 1929, 195f. (G. Behrens).
2 Wallraf-Richartz-Jahrbuch, N. F. 2/3, 1933/34, 7ff. (F. Fremers-
dorf).
 
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