124
E. Wahle:
in der Regel nur von kurzer Dauer war und daher keine zahl-
reichen und deutlichen Spuren hinterlassen hat“1. Deutlicher aber
noch als hier kommt diese Vorstellung von der Einseitigkeit der
Fundüberlieferung bei M. Hoernes zum Ausdruck, der eigentlich
schon ganz bis zu unserem Bilde von Kulturprovinz und Kultur-
bruch vordringt. ,,Es hat,“ so sagt er2, „sehr wenig Wert, was
wir heute vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einzelner
Kulturschichten in bestimmten Gegenden, von dichter oder dünner
Bevölkerung oder gar von Wanderungen, deren Ausgangspunkten,
Etappen und Zielen reden. Ich höre hier den Einwurf: was will
dann überhaupt die Prähistorie, wenn das alles, was man so müh-
sam erforscht und erschlossen hat, nichts ist und nichts bedeutet ?
Die Sache liegt nur nicht so auf der Hand, wie man meint. Völker-
wanderungen4 und ,Kulturströmungen4 sind leichter zu behaupten
als nachzuweisen, und im Grunde genommen sehen wir nur Kultur-
gruppen, Zustände, Gewordenes, nicht das Werden und Entstehen,
nicht den Fluß in Raum und Zeit, nicht den ältesten menschlichen
Kulturgang im wichtigsten Teile unserer Erde“.
Es müßte nun heute umso leichter sein, diese schon recht alte
Erkenntnis in der Deutung des Fundstoffes zur Anwendung zu
bringen, als gerade unser derzeitiges, gegenüber dem damals vor-
handenen um ein Vielfaches vermehrtes Material dringend nach ihr
verlangt. Doch sind aus den Andeutungen von S. Müller und
Hoernes nicht die Folgerungen gezogen worden, wird nur gelegent-
lich die Kluft als solche erkannt und ist man dann wohl auch um
ihre Deutung bemüht; ein Zeugnis dafür, daß sie eben wirklich ein
Problem darstellt. Auf die entsprechenden Überlegungen Götzes
und Brenners wurde oben3 bereits aufmerksam gemacht. Es ver-
dient Beachtung, daß der erstere4 „alle Bedingungen für die Aus-
bildung fester Kunstformen“, d. h. in seinem Falle der den Goten
zugewiesenen Altertümer, in derjenigen Zeit findet, in welcher die
1 Nordische Alterthumskunde 1, 1897, 68; ähnlich ebenda 316: „Auf
allen Gebieten der prähistorischen Archäologie sind die ausgeprägten und voll
entwickelten Stilperioden natürlich am leichtesten zu erfassen, während die
Übergänge und einleitenden Stadien sich oft lange verborgen halten“.
2 Archiv für Anthropologie, N. F. 3, 1905, 240, in einem Aufsatz über
die Hallstattperiode. Die Feststellung, ob und in welchem Umfange diese
Deutung sonst noch bei Hoernes begegnet, muß derjenigen einheitlichen
Würdigung seines ganzen Lebenswerkes Vorbehalten bleiben, deren Fehlen in
dieser Arbeit schon einmal als eine Lücke empfunden wurde.
3 S. 88. 4 Gotische Schnallen (1907), 30.
E. Wahle:
in der Regel nur von kurzer Dauer war und daher keine zahl-
reichen und deutlichen Spuren hinterlassen hat“1. Deutlicher aber
noch als hier kommt diese Vorstellung von der Einseitigkeit der
Fundüberlieferung bei M. Hoernes zum Ausdruck, der eigentlich
schon ganz bis zu unserem Bilde von Kulturprovinz und Kultur-
bruch vordringt. ,,Es hat,“ so sagt er2, „sehr wenig Wert, was
wir heute vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einzelner
Kulturschichten in bestimmten Gegenden, von dichter oder dünner
Bevölkerung oder gar von Wanderungen, deren Ausgangspunkten,
Etappen und Zielen reden. Ich höre hier den Einwurf: was will
dann überhaupt die Prähistorie, wenn das alles, was man so müh-
sam erforscht und erschlossen hat, nichts ist und nichts bedeutet ?
Die Sache liegt nur nicht so auf der Hand, wie man meint. Völker-
wanderungen4 und ,Kulturströmungen4 sind leichter zu behaupten
als nachzuweisen, und im Grunde genommen sehen wir nur Kultur-
gruppen, Zustände, Gewordenes, nicht das Werden und Entstehen,
nicht den Fluß in Raum und Zeit, nicht den ältesten menschlichen
Kulturgang im wichtigsten Teile unserer Erde“.
Es müßte nun heute umso leichter sein, diese schon recht alte
Erkenntnis in der Deutung des Fundstoffes zur Anwendung zu
bringen, als gerade unser derzeitiges, gegenüber dem damals vor-
handenen um ein Vielfaches vermehrtes Material dringend nach ihr
verlangt. Doch sind aus den Andeutungen von S. Müller und
Hoernes nicht die Folgerungen gezogen worden, wird nur gelegent-
lich die Kluft als solche erkannt und ist man dann wohl auch um
ihre Deutung bemüht; ein Zeugnis dafür, daß sie eben wirklich ein
Problem darstellt. Auf die entsprechenden Überlegungen Götzes
und Brenners wurde oben3 bereits aufmerksam gemacht. Es ver-
dient Beachtung, daß der erstere4 „alle Bedingungen für die Aus-
bildung fester Kunstformen“, d. h. in seinem Falle der den Goten
zugewiesenen Altertümer, in derjenigen Zeit findet, in welcher die
1 Nordische Alterthumskunde 1, 1897, 68; ähnlich ebenda 316: „Auf
allen Gebieten der prähistorischen Archäologie sind die ausgeprägten und voll
entwickelten Stilperioden natürlich am leichtesten zu erfassen, während die
Übergänge und einleitenden Stadien sich oft lange verborgen halten“.
2 Archiv für Anthropologie, N. F. 3, 1905, 240, in einem Aufsatz über
die Hallstattperiode. Die Feststellung, ob und in welchem Umfange diese
Deutung sonst noch bei Hoernes begegnet, muß derjenigen einheitlichen
Würdigung seines ganzen Lebenswerkes Vorbehalten bleiben, deren Fehlen in
dieser Arbeit schon einmal als eine Lücke empfunden wurde.
3 S. 88. 4 Gotische Schnallen (1907), 30.