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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 3. Abhandlung): Zeit und Geschichte bei Augustin: vorgetragen am 14. Juli 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47817#0045
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Zeit und Geschichte bei Augustin

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Unruhe des Herzens nicht produktiv und nicht intentional ist. Sie ist
nichts anderes als das Flattern des Herzens und das Zerspringen der
Seele73 in die Zeiten von Buch XI: „sed adhuc in praeteritis et futuris
rerum motibus cor eorum volitat et adhuc vanum est. quis tenebit illud
et figet illud, ut paululum stet et paululum rapiat splendorem semper
stantis aeternitatis et conparet cum temporibus numquam stantibus
[...]“ (conf. 11,11,13) und „at ego in tempora dissilui, quorum ordinem
nescio, et tumultuosis varietatibus dilaniantur cogitationes meae,
intima viscera animae meae, donec in te confluam purgatus et liquidus
igne amoris tui“ (conf. 11, 29, 39).
So sehr diese Sätze auch Zukünftigkeitscharakter haben („tenebit“,
„figet“, „donec“) und die Beendigung einer zuständlichen Gegenwart
aussagen („adhuc volitat“, „adhuc vanum est“, „inquietum est“, „dila-
niantur“), so sind doch ihre Zukunft und Gegenwart nicht die der Zeit-
lehre, sondern der gegenwärtige Zustand ist eben die Zeit und die
Zukunft deren Aufhebung mitsamt ihrer Zukunft. Die augustinische
Zeitlehre kann diese Zukunft nicht integrieren, denn die Ewigkeit im
ersten Satz hebt die Zeit als das Flattern in Vergangenheit und Zukunft
auf („in praeteritis et futuris rerum motibus“), und im zweiten Satz
fehlt Gerichtetheit der Zeit, Hervorhebung der Zukunft unter den drei
Zeiten so sehr, daß Augustin selbst die Ordnung der Zeiten, die Reihe
Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit, und den Sinn solcher Ordnung
nicht versteht. Nicht die menschliche Zukunft ist auf die Aufhebung
der Zeit ausgerichtet. Das Eingreifen der Gnade Gottes (conf. 1, 5, 5:
„quis mihi dabit adquiescere in te?“), die den Menschen aus seiner
Zeit befreit, aus seinem Verlorensein in die Zerstreuung74 der schlech-

73 So auch de Labriolle, ed. conf. 1,1,1, Anm. 1: „Cette phrase [...] resume tout
l’esprit des ,Confessions‘. Les passions eparpillent l’äme; l’intelligence se disperse
dans la variete des systemes. C’est dans l’amour de Dieu, dans l’assujetissement ä la
foi, que reside la veritable quietude intellectuelle et morale“.
74 Dem zitierten Satz „at ego in tempora dissilui, [... ] et tumultuosis varietatibus dila-
niantur cogitationes meae, [...]“ geht im gleichen Abschnitt voraus: „ecce distentio
est vita mea“. An dieser Stelle hat Augustin die Verschmelzung des traditionellen
Definitionselements öiaaraou; bzw. (xpovtxf)) naparaai^ mit der christlichen Meta-
pher der Zerstreuung und Zerissenheit in das Vielerlei erreicht. Belege zu „disten-
tus“ (,mit Vielem und Verschiedenartigem beschäftigt) aus der klassischen Litera-
tur und zu „distentio“ = „sollicitudo, occupatio“ und „distendere“ in christlichen
Texten (incl. Augustin) bei O’Daly, Distentio, S. 266ff. und Thes. I.L., s.vv. Vgl. bes.
conf. 8,10,24: „diversae voluntates distendunt cor hominis“. Die Sachparallelen aus
Augustin, die O’Daly, a.O. und Meijering, comm. conf. XI, S. 101-103 zu „distentio“
 
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