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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0019
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Ovids poetische Menschenwelt

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§ 3 Psychologie als anthropologische Hermeneutik
Bevor wir uns diesen Schöpfungsberichten zuwenden und uns fragen,
was sie bedeuten, soll der Satz, das Thema Ovids sei der Mensch, noch
durch Abgrenzungen deutlicher und spezifisch werden. Ovids Metamor-
phosen gelten nicht dem Helden und nicht den einfachen Leuten, d.h.
weder dem heroic temper, dem Helden qua Helden, noch einer pro-
grammatischen Kleine-Leute-Alltäglichkeit. Sie gelten nicht Menschen
früherer Epochen als von heutigen Menschen in Fühlen, Denken und
Erleben geschichtlich verschieden, nicht Völkern oder Staaten, nicht
der Geschichte, der Gesellschaft, der Politik, auch nicht der Natur oder
dem Kosmos. Ovids Thema ist der individuelle Mensch. Er erzählt von
Menschen in außerordentlichen Situationen, in Krisen, in Momenten
gesteigerten Daseins und unerträglichen Leidens. Es gibt keine antike
Dichtung vergleichbaren Umfangs, die ebenso auf individuelle Men-
schen und ihr Erleben und Schicksal gerichtet wäre wie die Metamor-
phosen. Das Interesse, das den Menschen trifft, ist weder historisch
noch politisch, weder philosophisch noch theologisch; es ist ,moralisch‘
(im nicht moralisierenden alten Sinn des Wortes), d. h. anthropologisch,
psychologisch, ,rein menschlich1. Bereiche und Mächte über und in den
Menschen wie Götter, Schicksal, Krieg dienen dazu, die Situationen zu
erzeugen, in denen der einzelne Mensch angeschaut und Menschliches
verstanden werden kann. Der mythologische Schatz der Metamorpho-
sen ist das Material, das es Ovid erlaubt, „gesteigerte und außergewöhn-
liche Seelenvorgänge [. . .] darzustellen“.1" Das psychologische Inter-
esse zielt nicht auf Kritik, Verkleinerung, Durchleuchtung falschen
Scheins, sondern auf menschliches Verstehen. Ein nur am Menschen
interessierter Künstler betrachtet den Menschen in seiner Menschlich-
keit mit Neugier, Sensibilität und verstehender Menschlichkeit. Ovids
Psychologie ist anthropologische Hermeneutik. Seine Sympathie, seine
Einfühlung und selbst sein Einverständnis halten die Darstellung derart
fest, daß sie nie zynisch oder niedrig wird; die Ironie gilt mehr dem eige-
nen Pathos des Dichters als seinen Figuren. Ethos und Stilhaltung des
einverstehenden Lächelns Ovids haben Viktor Pöschl „hilaritas“ und
an Menschenverwandlungen zu denken ist (vgl. o. S. 14), eine bewußte Aussparung
darstellt, um das Thema, vorbereitet zwar, aber dennoch überraschend, eben mit dem
ersten Schöpfungsbericht ertönen zu lassen (vgl. u. S. 25).
1(1 Pöschl (1959), Erzählkunst Ovids, S. 272. Vgl. Galinsky (1975), Ovid’s Metamorphoses,
S. 45: „anthology of human conflicts“, „depiction of the whole ränge of human nature“.
 
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