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Ernst A. Schmidt
den unbefangenen Leser nicht, aber nur deshalb nicht, weil sie für ihn,
aufgrund seiner impliziten Prämissen, nicht vorhanden sind. Vom Dich-
ter aber gilt wohl eher, daß er weniger stumpf ist als wir und daß er bei
der Komposition seines Werkes nicht nur gedacht, sondern auch kalku-
liert hat.
Stellen wir nochmals, um Ovids Kompositionskunst und den Charak-
ter seines Erzählens zu verstehen, die Frage, ob bei der Schaffung der
wilden Tiere in der Kosmogonie {met. 1,75) auch der Wolf mitzuverste-
hen sei, das Resultat doch erst der ersten Metamorphose des Werks
(v. 237). Verallgemeinert man das auf alle Verwandlungen und fordert
um der Logik willen, die Resultate der erst später geschehenen Ver-
wandlungen könnten nicht schon als Kreaturen der Schöpfung entstan-
den sein, so verwechselt man Logik mit historisch-kausaler Prozeßfolge,
statt sich aus Ovids Dichtung seine Logik, nämlich Bedeutung der Meta-
morphose und Themenführung, zu erschließen. Und will man sich tat-
sächlich das absurde Ansinnen gefallen lassen, zu met. 1,38f. 44 und 75
die bei der Schöpfung im Blick auf ,spätere ‘ Metamorphosen auszuspa-
renden Quellen, Flüsse, Bäume, wilden Tiere und Vögel in den Kom-
mentar zu setzen? Nein, die Schöpfung ist vollständig, auch die von Ovid
erzählte Schöpfung. Alle Gestalten, in die hinein Menschen später er-
zählter Geschichten verwandelt werden, sind als unauffälliges musikali-
sches Motiv in der Ouvertüre des Werkes bereits präsent. Ihre ,zweite
Schöpfung1, die in den Metamorphosengeschichten erzählte Entstehung
durch Verwandlung aus Menschen, ist, wie u. S.58ff. gezeigt werden
soll, ihre Anthropomorphisierung im Sinn der imago-Bedeutung für
Menschliches. Aber auch diese bloße Bedeutungsaufladung ist kein ge-
genüber der Schöpfung späterer historischer Akt - zumal schon die
Schöpfung selbst kein Ereignis in der Zeit ist oder Urgeschichte dar-
stellt-, so wenig die Krönung der Kosmogonie in der Menschenerschaf-
fung die (natur-)geschichtliche Aussage machen will, der Mensch sei als
letztes Lebewesen entstanden, oder die Wiederherstellung des Lebens
nach der Flut in der Reihenfolge Mensch - andere Lebewesen die entge-
gengesetzte Behauptung aufstellt. Die Vollständigkeit der Schöpfung
gilt selbst im Blick auf die Tiere, bei deren Entstehung in einer Meta-
morphose Ovid ausdrücklich hervorhebt, daß es sie vorher noch nicht
gegeben habe, wie bei Cygnus {met. 2,377: „fit nova Cygnus avis“), Per-
dix {met. 8,239 f.: „[. . .]/ factaque nuper avis“), Picus {met. 14,390f.:
„novam [. . .] avem“), Ardea {met. 14,576: „tum primum cognita prae-
pes“)· So nah angesichts des Umstands, daß es immer um Vögel geht,
eine quellengeschichtliche Erklärung zu liegen scheint - Ornithogonie
Ernst A. Schmidt
den unbefangenen Leser nicht, aber nur deshalb nicht, weil sie für ihn,
aufgrund seiner impliziten Prämissen, nicht vorhanden sind. Vom Dich-
ter aber gilt wohl eher, daß er weniger stumpf ist als wir und daß er bei
der Komposition seines Werkes nicht nur gedacht, sondern auch kalku-
liert hat.
Stellen wir nochmals, um Ovids Kompositionskunst und den Charak-
ter seines Erzählens zu verstehen, die Frage, ob bei der Schaffung der
wilden Tiere in der Kosmogonie {met. 1,75) auch der Wolf mitzuverste-
hen sei, das Resultat doch erst der ersten Metamorphose des Werks
(v. 237). Verallgemeinert man das auf alle Verwandlungen und fordert
um der Logik willen, die Resultate der erst später geschehenen Ver-
wandlungen könnten nicht schon als Kreaturen der Schöpfung entstan-
den sein, so verwechselt man Logik mit historisch-kausaler Prozeßfolge,
statt sich aus Ovids Dichtung seine Logik, nämlich Bedeutung der Meta-
morphose und Themenführung, zu erschließen. Und will man sich tat-
sächlich das absurde Ansinnen gefallen lassen, zu met. 1,38f. 44 und 75
die bei der Schöpfung im Blick auf ,spätere ‘ Metamorphosen auszuspa-
renden Quellen, Flüsse, Bäume, wilden Tiere und Vögel in den Kom-
mentar zu setzen? Nein, die Schöpfung ist vollständig, auch die von Ovid
erzählte Schöpfung. Alle Gestalten, in die hinein Menschen später er-
zählter Geschichten verwandelt werden, sind als unauffälliges musikali-
sches Motiv in der Ouvertüre des Werkes bereits präsent. Ihre ,zweite
Schöpfung1, die in den Metamorphosengeschichten erzählte Entstehung
durch Verwandlung aus Menschen, ist, wie u. S.58ff. gezeigt werden
soll, ihre Anthropomorphisierung im Sinn der imago-Bedeutung für
Menschliches. Aber auch diese bloße Bedeutungsaufladung ist kein ge-
genüber der Schöpfung späterer historischer Akt - zumal schon die
Schöpfung selbst kein Ereignis in der Zeit ist oder Urgeschichte dar-
stellt-, so wenig die Krönung der Kosmogonie in der Menschenerschaf-
fung die (natur-)geschichtliche Aussage machen will, der Mensch sei als
letztes Lebewesen entstanden, oder die Wiederherstellung des Lebens
nach der Flut in der Reihenfolge Mensch - andere Lebewesen die entge-
gengesetzte Behauptung aufstellt. Die Vollständigkeit der Schöpfung
gilt selbst im Blick auf die Tiere, bei deren Entstehung in einer Meta-
morphose Ovid ausdrücklich hervorhebt, daß es sie vorher noch nicht
gegeben habe, wie bei Cygnus {met. 2,377: „fit nova Cygnus avis“), Per-
dix {met. 8,239 f.: „[. . .]/ factaque nuper avis“), Picus {met. 14,390f.:
„novam [. . .] avem“), Ardea {met. 14,576: „tum primum cognita prae-
pes“)· So nah angesichts des Umstands, daß es immer um Vögel geht,
eine quellengeschichtliche Erklärung zu liegen scheint - Ornithogonie