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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0050
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Ernst A. Schmidt

§ 8 Fränkels Deutung: Wavering Identity. Gegenüberlegungen
Der Gräzist und Ovidliebhaber Hermann Fränkel publizierte im kali-
fornischen Exil 1945 als Band 18 der Sather Classical Lectures sein Buch
„Ovid. A Poet between Two Worlds“, Berkeley and Los Angeles. Darin
deutet er Ovid allgemein und insbesondere seine Metamorphosen als
den dichterisch ahnenden Ausdruck einer Zeitkrise im Sinn des Über-
gangs und Nebeneinanders von heidnisch-antiker zu christlicher Seelen-
lage. Diese Unentschiedenheit und Zwiespältigkeit äußere sich bei Ovid
individual-psychologisch als die den ovidischen Figuren eigene schwan-
kende Identität („wavering identity“), die Fränkel auch ,zerrissene
Identität1 oder „Ich-Spaltung“ nennt.27
Diese Idee von Ovids Faszination (im Sinn einer ihrer selbst nicht
bewußt werdenden Entdeckung) durch die schwankende oder zerris-
sene Identität oder Ich-Spaltung ist im Blick auf die Metamorphosen,
aber nicht nur im Blick auf diese, falsch, falsch in der Weise, daß das
Gegenteil richtig ist.28 Schon von der Dichterphysiognomie Ovids, von
27 Vgl. Fränkel (1945), Ovid, vor allem S. 21. 73. 78f. 81f. 99. 183; die meisten dieser
Passagen stammen aus dem Kapitel „The ,Metamorphoses1“ (S. 72-111).
28 Diese schroffe Entschiedenheit nur als unübersehbares Zeichen, daß ich Fränkel ernst-
nehme. Dem Rang dieses Gelehrten und dem Gewicht seiner These wird weder beiläu-
fige Zustimmung noch achtloses Übergehen gerecht. In der Literatur wird von Fränkels
These entweder geschwiegen, oder man beruft sich auf sie wie auf ein akzeptiertes Fak-
tum, wenn auch eher beiläufig und ohne substantielle Konsequenzen. Ich gebe eine
exemplarische Dokumentation. 1. Von den Rezensionen waren die englischen ableh-
nend - ohne Gründe (L. P. Wilkinson, Class. Rev. 60 (1946), S. 77: „Did Ovid really,
unaided by the German language, anticipate the mystifications of German phi-
losophy?“; R. Syme, Journ. Rom. Stud. 37 (1947), S. 221: „The largerClaimsof Professor
Fränkel fall short of proof - or plausibility. “), die amerikanische von Otis und die
deutschsprachigen eingeschränkt zustimmend (B. Otis, Class. Philol. 92 (1947), S. 60f.
wendet gegen Fränkel ein, daß schon „the mere idea of metamorphosis itself“ „implies
to a certain extent a ,fluid identity“ or ,divided personality1“ - in seinem Ovidbuch von
1966 erwähnt Otis Fränkels Zentralthese nicht einmal; W. Marg, Gnomon 21 (1949),
S.48f. und 53f.: knappes, im ganzen positives Referat; W. Kraus, Anzeiger f. d. Alt.-
Wiss. 11 (1958), S. 131 f.: zustimmender Bericht, wenn auch Neuheit bei Ovid bezwei-
felt). 2. In dem von Μ. v. Albrecht und E. Zinn herausgegebenen Band „Ovid“, Wege
der Forschung, Darmstadt 1968 betrifft der aus Fränkels Buch zum Wiederabdruck aus-
gewählte Abschnitt nicht dessen Zentralthese. Im übrigen Band gibt es nur einen einzi-
gen Hinweis auf die „wavering identity“, nämlich v. Albrecht (1963), Ovids Humor,
S. 419: Kritik an ihr, allerdings nur im Blick auf die Götter. 3. Ich kenne nur drei expli-
zite, Fränkels These ernstnehmende Untersuchungen: Doblhofer (1960), Ovidius urba-
nus, bes. S. 67. 83-91. 223-228; Voigtländer (1975), Ichspaltung bei Ovid; Holzberg
(1988), Einführung in Metamorphosen, S. 729f. Während die beiden erstgenannten Ar-
 
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