Ovids poetische Menschenwelt
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oder Allegorie für eine spezifische Seelenlage und Selbsterfahrung
Ovids erkennen, dergestalt daß er mit seiner Hilfe das Lebensgefühl
seiner Zeit oder sein eigenes gestaltet hätte. Die Verwandlung in Mär-
chen und Mythos ist - und bleibt auch in den Metamorphosen - das Fik-
tivste, Absurdeste, was es für den Gebildeten in Ovids Zeit gab. Ovid
reizte es, selbst diese märchenhaften Unmöglichkeiten ,plausibel1 und
,rührend1 zu machen, durch Realismus und Psychologie, durch Rhetorik
und Humor, durch Menschlichkeit.
Schauen wir nun auf das Resultat der Metamorphose. Was hierbei das
Selbstgefühl der verwandelten Menschen betrifft, so kommen bei Ovid
nur diese beiden Varianten vor: das Selbstgefühl und Ichbewußtsein be-
steht unverändert fort, oder aber es wird ausgelöscht, und die Metamor-
phose ist todähnlich. Also ist die Frage nach der Identitätskrise überhaupt
nur an die erste Variante zu stellen, und hier ist sie mit der Feststellung
unveränderten Ichbewußtseins schon mit Nein beantwortet.
Gegenüber der relativ häufigen erzählerischen Funktion der Ver-
wandlung, Probleme, Konflikte, Notsituationen zu lösen - zumal in den
Erzählungen von Jungfrauen, die von Göttern begehrlich verfolgt wer-
den (Daphne, Syrinx, Arethusa)-, ist der Fall, daß sie Probleme und
Konflikte erst schafft, die absolute Ausnahme, kommt nur einmal vor
und betrifft eine Verwandlung (die des Mädchens Callisto in eine Bä-
rin)39, die ihrerseits in einerweiteren endgültigen Metamorphose aufge-
hoben wird (Versetzung an den Himmel als Rettung vor dem Frevel,
daß der eigene Sohn sie erlegt: das Sternbild des Großen Bären und des
Arktophylax). Fränkel greift nun gerade diese Ausnahme auf, weil hier
durch die Metamorphose ein Identitätsbruch bewirkt werde. Sollte er
rechthaben, wäre eben damit seine These für die Metamorphosen insge-
samt widerlegt, weil sie nur für eine Ausnahme gilt. Aber man darf ihm
selbst hier nicht folgen. Bei Ovid ist nichts anderes zu beobachten als die
Fortdauer des alten Identitätsbewußtseins (met. 2,485). Und eben die-
ser Sachverhalt führt im Verein mit der neuen Gestalt zu Paradoxien, so
etwa wenn Callisto als Bärin vor Bären ängstlich flieht (met. 2,494) oder
wenn sie vor ihrem Sohn, dem Jäger, nicht flieht, sondern stehen bleibt,
ihn mit unbewegten Augen lange unverwandt anblickt und endlich auf
ihn zukommen will (v. 500ff.). Hier liegt gerade kein Bruch des Ichge-
fühls vor, sondern die psychologische Deutung des an und für sich ab-
39 Die Fälle von Io und Actaeon liegen anders: so sehr auch bei ihnen die Verwandlung
Leiden (und sogar den Tod) bringt, so erzeugt sie doch keine psychischen Konflikte in
den Verwandelten.
53
oder Allegorie für eine spezifische Seelenlage und Selbsterfahrung
Ovids erkennen, dergestalt daß er mit seiner Hilfe das Lebensgefühl
seiner Zeit oder sein eigenes gestaltet hätte. Die Verwandlung in Mär-
chen und Mythos ist - und bleibt auch in den Metamorphosen - das Fik-
tivste, Absurdeste, was es für den Gebildeten in Ovids Zeit gab. Ovid
reizte es, selbst diese märchenhaften Unmöglichkeiten ,plausibel1 und
,rührend1 zu machen, durch Realismus und Psychologie, durch Rhetorik
und Humor, durch Menschlichkeit.
Schauen wir nun auf das Resultat der Metamorphose. Was hierbei das
Selbstgefühl der verwandelten Menschen betrifft, so kommen bei Ovid
nur diese beiden Varianten vor: das Selbstgefühl und Ichbewußtsein be-
steht unverändert fort, oder aber es wird ausgelöscht, und die Metamor-
phose ist todähnlich. Also ist die Frage nach der Identitätskrise überhaupt
nur an die erste Variante zu stellen, und hier ist sie mit der Feststellung
unveränderten Ichbewußtseins schon mit Nein beantwortet.
Gegenüber der relativ häufigen erzählerischen Funktion der Ver-
wandlung, Probleme, Konflikte, Notsituationen zu lösen - zumal in den
Erzählungen von Jungfrauen, die von Göttern begehrlich verfolgt wer-
den (Daphne, Syrinx, Arethusa)-, ist der Fall, daß sie Probleme und
Konflikte erst schafft, die absolute Ausnahme, kommt nur einmal vor
und betrifft eine Verwandlung (die des Mädchens Callisto in eine Bä-
rin)39, die ihrerseits in einerweiteren endgültigen Metamorphose aufge-
hoben wird (Versetzung an den Himmel als Rettung vor dem Frevel,
daß der eigene Sohn sie erlegt: das Sternbild des Großen Bären und des
Arktophylax). Fränkel greift nun gerade diese Ausnahme auf, weil hier
durch die Metamorphose ein Identitätsbruch bewirkt werde. Sollte er
rechthaben, wäre eben damit seine These für die Metamorphosen insge-
samt widerlegt, weil sie nur für eine Ausnahme gilt. Aber man darf ihm
selbst hier nicht folgen. Bei Ovid ist nichts anderes zu beobachten als die
Fortdauer des alten Identitätsbewußtseins (met. 2,485). Und eben die-
ser Sachverhalt führt im Verein mit der neuen Gestalt zu Paradoxien, so
etwa wenn Callisto als Bärin vor Bären ängstlich flieht (met. 2,494) oder
wenn sie vor ihrem Sohn, dem Jäger, nicht flieht, sondern stehen bleibt,
ihn mit unbewegten Augen lange unverwandt anblickt und endlich auf
ihn zukommen will (v. 500ff.). Hier liegt gerade kein Bruch des Ichge-
fühls vor, sondern die psychologische Deutung des an und für sich ab-
39 Die Fälle von Io und Actaeon liegen anders: so sehr auch bei ihnen die Verwandlung
Leiden (und sogar den Tod) bringt, so erzeugt sie doch keine psychischen Konflikte in
den Verwandelten.