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Ernst A. Schmidt
Niobes Versteinern von der „natürliche(n) fast psychologische(n) Folge
ihres maßlosen Schmerzes“ spricht.12
Unsere Metaphern für menschliche Charaktere, Temperamente, Lei-
denschaften, Triebe, Laster, Tugenden, Leiden, Seelenlagen, Konflikte
werden von Ovid ,realisiert; sie erhalten konkrete und anschauliche
Substanz und Präsenz in unserer Welt als dauernde Gestalt gewordenes
gelebtes Leben. Der in einen Wolf verwandelte Lycaon war schon vor-
her ein ,Wolf‘, war „schon längst“ (vgl. met. 14,758: „iam pridem“) ein
Wolf (metaphorisch) gewesen.13 Von der Metamorphose des Lycaon an
ist Wolf Metapher für menschliche Grausamkeit und Blutgier.
Ich will nun allerdings weder bei den partikulären Deutungen einzel-
ner Metamorphosen wie in den obigen Zitaten stehenbleiben noch auch
mich auf unser schon immer bestehendes Einverständnis mit Ovid auf-
grund eben solcher einzelner Metaphern beschränken, was ebenso par-
tikular bliebe. Ich sage vielmehr: das gilt für alle Verwandlungen und ist
der Sinn der Metamorphosen. Ovids Dichtung ist die erzählerische Ai-
tiologie der Welt als menschlichen Metaphernhaushalts. Ovid geht weit
über den vorhandenen Metaphernschatz hinaus, wie es ebenso das epi-
sche Gleichnis tut, nur viel weiter als dieses. Die Metamorphosen sind
geradezu die Transformation des epischen Gleichnisses in die epische
Erzählung selber.14
In dieser Erweiterung der menschlichen Metaphorik liegt eine der
großen dichterischen Leistungen Ovids. Zu der bereits zitierten ent-
scheidend wichtigen Bemerkung von Albrechts, daß die ovidische Me-
tamorphose „stets Ähnliches in Ähnliches übergehen“ lasse15, gehört
nämlich auch die Einsicht: ja, aber diese Ähnlichkeiten muß man erst
einmal sehen! Der Dichter muß sie - da sie keineswegs für das stumpfe
Auge erkennbar oder unserer beschränkten Menschenliebe und
-kenntnis schon aufgegangen sind - erst einmal sichtbar machen, auch
noch in den unwahrscheinlichsten durch die Mythologie vorgegebenen
Fällen. Eben das leistet Ovids Psychologie und sein Scheinrealismus,
seine Kunst, das Unmöglichste als geradezu plausibel erscheinen zu
lassen.
Die metaphernbildende Kraft beruht nach Aristoteles auf der unüber-
| Voit (1957), Niobe, S. 149.
13 Vgl. Pianezzola (1979), Metamorfosi come metafora, S. 861.
14 Vgl. das analoge Urteil über Hesiods Erga und Gleichnisse der Ilias bei Pfeiffer (1935),
ree. Jaeger, Paideia, Sp. 2170f.
15 Vgl. auch Pianezzola (1979), Metamorfosi come metafora, S. 85ff.: affinitä, analogia,
rassomiglianza, isomorfismo, sowie die dort genannte Literatur.
Ernst A. Schmidt
Niobes Versteinern von der „natürliche(n) fast psychologische(n) Folge
ihres maßlosen Schmerzes“ spricht.12
Unsere Metaphern für menschliche Charaktere, Temperamente, Lei-
denschaften, Triebe, Laster, Tugenden, Leiden, Seelenlagen, Konflikte
werden von Ovid ,realisiert; sie erhalten konkrete und anschauliche
Substanz und Präsenz in unserer Welt als dauernde Gestalt gewordenes
gelebtes Leben. Der in einen Wolf verwandelte Lycaon war schon vor-
her ein ,Wolf‘, war „schon längst“ (vgl. met. 14,758: „iam pridem“) ein
Wolf (metaphorisch) gewesen.13 Von der Metamorphose des Lycaon an
ist Wolf Metapher für menschliche Grausamkeit und Blutgier.
Ich will nun allerdings weder bei den partikulären Deutungen einzel-
ner Metamorphosen wie in den obigen Zitaten stehenbleiben noch auch
mich auf unser schon immer bestehendes Einverständnis mit Ovid auf-
grund eben solcher einzelner Metaphern beschränken, was ebenso par-
tikular bliebe. Ich sage vielmehr: das gilt für alle Verwandlungen und ist
der Sinn der Metamorphosen. Ovids Dichtung ist die erzählerische Ai-
tiologie der Welt als menschlichen Metaphernhaushalts. Ovid geht weit
über den vorhandenen Metaphernschatz hinaus, wie es ebenso das epi-
sche Gleichnis tut, nur viel weiter als dieses. Die Metamorphosen sind
geradezu die Transformation des epischen Gleichnisses in die epische
Erzählung selber.14
In dieser Erweiterung der menschlichen Metaphorik liegt eine der
großen dichterischen Leistungen Ovids. Zu der bereits zitierten ent-
scheidend wichtigen Bemerkung von Albrechts, daß die ovidische Me-
tamorphose „stets Ähnliches in Ähnliches übergehen“ lasse15, gehört
nämlich auch die Einsicht: ja, aber diese Ähnlichkeiten muß man erst
einmal sehen! Der Dichter muß sie - da sie keineswegs für das stumpfe
Auge erkennbar oder unserer beschränkten Menschenliebe und
-kenntnis schon aufgegangen sind - erst einmal sichtbar machen, auch
noch in den unwahrscheinlichsten durch die Mythologie vorgegebenen
Fällen. Eben das leistet Ovids Psychologie und sein Scheinrealismus,
seine Kunst, das Unmöglichste als geradezu plausibel erscheinen zu
lassen.
Die metaphernbildende Kraft beruht nach Aristoteles auf der unüber-
| Voit (1957), Niobe, S. 149.
13 Vgl. Pianezzola (1979), Metamorfosi come metafora, S. 861.
14 Vgl. das analoge Urteil über Hesiods Erga und Gleichnisse der Ilias bei Pfeiffer (1935),
ree. Jaeger, Paideia, Sp. 2170f.
15 Vgl. auch Pianezzola (1979), Metamorfosi come metafora, S. 85ff.: affinitä, analogia,
rassomiglianza, isomorfismo, sowie die dort genannte Literatur.