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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0070
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Ernst A. Schmidt

(met. 8,703-724), oder sie überwindet den Tod durch Verwandlung des
Leichnams: So findet man statt der Leiche des Narcissus nur eine herrli-
che Blume (met. 3,508-510). Schon in einen Seevogel verwandelt vermag
Alcyone die im Meer antreibende Leiche ihres Gemahls Ceyx zu beleben
und die Götter zu Erbarmen zu bewegen, so daß er in einen Vogel verwan-
delt wird (met. 11,731-748). Metamorphose kann eine Ersatzlösung für
nicht-mögliche Wiedererweckung vom Tod sein, eine unvollkommene
Aufhebung des Todes (z. B. Leucothoe, met. 4,237-255). Die Zwischen-
stellung der Metamorphosen zwischen Tod und Leben als Resultat eines
tödlich erstarrten Lebens oder nur noch gleichsam äußerlich lebendigen
Totseins erkennen wir in der Verwandlung der Niobe in einen weinenden
Stein (met. 6,303-312).
Neben den wichtigsten narrativen Funktionen von Verwandlung wie
Götterstrafe (z.B. Lyncus), Rache der Götter (z.B. Callisto), Beloh-
nung durch sie (z. B. Philemon und Baucis) oder Erbarmen (z. B. Ceyx),
Rettung (z.B. Syrinx), Erlösung (z.B. Myrrha), Konflikt- oder Pro-
blemlösung (z.B. Iphis) stehen oft Tod, neues Leben usf. als ebenfalls
narrative Aspekte.
Die eindrucksvollste Geschichte einer Verwandlung als Erlösung ist
die der Myrrha im Gesang des Orpheus (met. 10,298-502). Ovid hat hier
besonders der Konflikt verbotenen Wollens interessiert, zwischen Recht,
Sitte, Sittlichkeit und einer Leidenschaft, die also ungewöhnlich, unna-
türlich, ein ,nefasς war, und Myrrhas Kampf in diesem Konflikt. 146 von
den 205 Versen der Erzählung gelten diesem seelischen Kampf des Mäd-
chens (v. 319-464), und noch der Sieg des Verlangens ist von Zaudern
begleitet: „cunctantem“ ist das letzte Wort über sie, bevor sie im Dunkeln
das Bett des Vaters erreicht (v. 462). Ihre Metamorphose, am Ende ihrer
Schwangerschaft, dient also nicht der Konfliktlösung (wie dagegen im
Fall der Iphis, die ein Mädchen liebt und in einen Mann verwandelt wird),
sondern ist ihre Erlösung, von ihr erbeten zwischen Lebensüberdruß
(v. 482: „taedia vitae“) und Todesangst. Der Wunsch wird von den Göt-
tern erfüllt (v. 488 f.); und - einzigartig in den Metamorphosen - Myrrha
arbeitet gewissermaßen an ihrer Verwandlung mit: „nun tulit illa moram
venientique obvia ligno / subsedit mersitque suos in cortice vultus“ (met.
10,497 f.). Sie verliert als neuerMyrrhenbaum mit ihrem (Menschen-)Leib
auch ihre „alte Empfindung“ („veteres [. . .] sensus“); „flet tamen [. . .]“,
und die tropfenden Tränen des Baumes, die Harzpcrlen der Myrrhe, er-
fahren Ehre, da in ihnen, die den Namen ihrer Herrin („nomen erile“)
tragen, jene für alle Zeiten genannt und unvergessen ist (v. 499-502).
Diese Verwandlung ist nicht die Verewigung von Myrrhas Erlösungs-
 
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