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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0075
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Ovids poetische Menschenwelt

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Ovid in seinem Interesse am Menschen als Menschen wendet seine Neu-
gier auf Naturdinge, ein Tier, eine Pflanze, einen Stein, und er macht die
Welt in ihren Gestalten zu einem Arsenal menschlicher Bedeutungen.16
Die Begründungsleistung der aitiologischen Erzählung verschiebt sich
in den Metamorphosen gegenüber der hellenistischen Tradition. In den
aitiologischen Dichtungen der Griechen waren miteinander kombiniert
die Erklärung des Vorhandenseins, der puren Existenz oder Faktizität
der die Neugier hervorrufenden Sache - ,warum gibt es . . .?‘ - und die
daraus folgende Erklärung der Bedeutung - ,und was bedeutet das da-
her?4 Bei Ovid ist die Erklärung fast ausschließlich17 auf die Bedeutung
allein gerichtet und zwar meist von Naturwesen, nicht von Sachverhal-
ten der Menschenwelt wie Kult und Brauch in den Αίτια oder den Fasti.
Die für die meisten Verwandlungsgeschichten typische (implizite oder
zu supplierende) Frage Ovids folgt dem Modell: ,Warum ist der Wolf
Bild menschlicher Wildheit und Mordgier?4; sie fragt nicht: ,Warum gibt
es Wölfe?418 Der seltenere Fragetyp in den Metamorphosen, näher an
der aitiologischen Tradition, ist diesem Muster analog: ,Warum gibt es
im Apollokult den Lorbeer?4 bzw. ,Warum ist dem Apollo der Lorbeer
heilig?4 Aber selbst diese Frage hat Ovid bereits im Blick auf die zu
erzählende Geschichte ins Menschliche, Psychologische abgewandelt:
,Warum liebt Apollo den Lorbeer?4 (vgl. met. 1,553).
Ovids Metamorphosen begründen nicht naturphilosophisch die Exi-
stenz von Weltformen (geschweige deren Haltlosigkeit in unablässigem
Wandel); die Verwandlungsgeschichte erklärt nicht, warum es Frösche
menschlichen1 ist wohl ein universaler ,narzißtischer1 Trieb und kann beim Besuch von
Tropfsteinhöhlen und Nationalparks mit bizarren Erosionsformen immer wieder beob-
achtet werden. Vor dem Erkennen einer Ähnlichkeit, meist aus der Menschenwelt, und
dem Benennen nach ihr (vom Hochzeitskuchen und dem Brautschleier zum alten König
und den Klatschweibern, „The Gossip“), erweckt die Naturform kein Interesse und
bleibt ,unverstanden1. Ovidisch wird dieser Trieb, wenn er die unbewegte Form aus der
Bewegung einer menschlichen Geschichte erklärt.
16 Diese Gegenüberstellung ist im Blick auf die kallimacheischen Aziia allerdings wohl ein
wenig zu modifizieren. Zwar erklärt auch Kallimachos das Merkwürdige und Anomale
mit der Geschichte einer individuellen Begebenheit - was man erzählen kann, ist immer
das Besondere-, aber dieses Individuell-Besondere ist bei ihm doch gerade ein Mittel
zur Erkenntnis von Allgemeinem, vielleicht in der Weise des (zufälligen) Zusammensto-
ßens zweier gesetzlicher1 Prozesse: Trauer und Opfer, Kult und Räuber, . . ., und so
gewinnt er Einblicke in das Wesen der Götter und der Menschen.
17 Vgl. zu den Ausnahmen1 Anm. 15.
18 Das fragt die Kosmogonie, aber selbst dort wird solches Fragen nicht mit dem Faktum
einer Entstehung als Übergang von Nichtsein zu Sein beschieden, sondern ihre Begrün-
dungen zielen auf eine Welt für den Menschen.
 
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