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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0077
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Ovids poetische Menschenwelt

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Göttern.“20 Auf diese Weise erklären Eduard und der Hauptmann in
den Wahlverwandtschaften den von Charlotte mit Verwunderung wahr-
genommenen Ausdruck ,Verwandtschaft1 in einem Kapitel eines Che-
miebuches über das Verhalten von Elementen zueinander als eine
menschliche Metapher. Der ganze Passus ist durchaus ovidisch. Nicht
nur darin, daß er die Weitsicht des Menschen mit einer Metapher aus
den Metamorphosen aussagt („der Mensch ist ein wahrer Narziß“), son-
dern auch in der Vermenschlichung der ganzen Welt, indem der Mensch
sie zum Spiegel und Gleichnis seiner selbst macht, ja, noch selbst darin,
daß „die Götter“ in der durchaus als zeitgenössisch zu verstehenden fik-
tiven Romanwirklichkeit21 als ein Teil der Welt erscheinen und wie
selbstverständlich in einer Reihe mit Tieren, Pflanzen und Elementen
genannt werden.
Indem in den ovidischen Metamorphosen der Mensch in Gestalten der
Welt verwandelt wird, erhält die Welt in ihren Gestalten exemplarisches
menschliches Seelenschicksal. „Es fehlt nicht viel“, sagt Charlotte, „so
sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt
hat“.22 Die vermenschlichte Welt wird mit all ihren Gestalten, Formen
und Bildern Metapher für Menschliches. Die Metamorphosen sind die
erzählerische Aitiologie der Welt in ihrer menschlichen Bedeutung und
Metaphorik und als solche eine Enzyklopädie epischer Gleichnisse, de-
ren Entstehung der Gegenstand der epischen Erzählung ist.
Zur Verdeutlichung des poetischen Sinnes von Ovids Metamorphosen
kann die Gegenüberstellung mit der Funktion dienen, die Vergils An-
spielungen auf mythologische Verwandlungen in den Georgica haben.
Frentz (1967), Mythologie in Georgica, S. 134f. bestimmt diese Funk-
tion überzeugend folgendermaßen: Vergils angedeutete Verwandlungs-
geschichten machten diesen „Gedanken leitmotivisch im ganzen Werk“
präsent: „Die Welt ist ein Kosmos, in dem Pflanze, Tier, Mensch und
auch die Sterne gleichberechtigte Teile des Ganzen sind. Der Mensch
wird durch dieselben Gesetzmäßigkeiten bestimmt wie Tier und
Pflanze, und diese ihrerseits werden vermenschlicht. [. . .] Vergil hat
diesen Gedanken der Einheit der Welt unter anderem durch häufigen
Hinweis auf Metamorphosen zum Ausdruck gebracht, weil in den Ver-
20 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, ed. 1987, S. 313 f.
21 Die Wahlverwandtschaften werden 1808/9 verfaßt. Das Buch des schwedischen Begrün-
ders der analytischen Chemie Torbern Bergman „De attractionibus electivis“ erschien
1775, die deutsche Übersetzung (von Hein Tabor) unter dem Titel „Wahlverwandt-
schaften“ 1785.
22 Goethe, Wahlverwandtschaften, ed. 1987, S. 315.
 
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