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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0095
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Ovids poetische Menschenwelt

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die folgende verallgemeinernde und die bisherigen Aufbauanalysen
korrigierende These zur Komposition der ovidischen Metamorphosen
auf. Die Themenvielfalt des Werkes ist weder strukturbildend im Sinn
der Juxtaposition von thematischen Sektionen (Werk-Teilen) noch
strukturneutral im Sinn sei es der Omnipräsenz aller Themen überall im
ganzen Werk, sei es der Beliebigkeit ihrer Verteilung, Verstreuung und
Nachbarschaft. Vielmehr formt sie die Dichtung im Sinn des Nacheinan-
ders von Schwerpunkten (Themendominanz), der Vorbereitung und
der Nachwirkung dieser Themen im Bereich anderer Hauptthemen und
der kontinuierlichen Verschiebung des Themas. Ich kann geradezu ei-
nen Satz von Otis aus seiner Retraktation aufgreifen14: „The basic thesis
of this book [. . .] is that the Metamorphoses is in effect a network of
related motifs moving in a definite direction“ (diese Einsicht wird aber
von Otis durch die Grundannahme von „decisive ,sectional· breaks“15
ebenso konterkariert wie durch die Hypothese eines sekundären archi-
tektonischen Plans mitsamt dessen Verdunklung und Verbergung). Das
,Netz motivischer Bildungen4 verändert sich nach determinierendem
Thema oder Themenkomplex und Zusammensetzung kontinuierlich.
Auf diese „permanente Metamorphose“ könnte man Schönbergs For-
mel der „entwickelnden Variation“ an wenden.16
Ovids Dichtung ist eine große Komposition oder Syntax, die mehrere
Themen, im ganzen nacheinander, durchführt. Diese Themen bleiben
jeweils für eine bestimmte Zeit, innerhalb eines Bereichs des Epos, do-
minant, dann, nachdem im Gebiet ihrer Vorherrschaft ein neues Thema
aufgekeimt ist, treten sie die Herrschaft allmählich an dieses neue
Thema ab, ohne doch selbst ganz zu verklingen. Dabei ist es sachlich
unmöglich und methodisch verfehlt, Grenzlinien exakt zu bezeichnen.
Jedes der Hauptthemen hat eine Anlaufphase in vereinzelten Antizipa-
tionen und Präfigurationen, eine Dominanzphase und eine Phase des
Nachklingens, der Ausdünnung und des Verklingens. Infolgedessen
gibt es die mannigfaltigsten Verschränkungen der Themen, und infolge
solcher Verschränkung und Nachbarschaft auch thematische Einfär-
bung und Sonderausprägung. Ja, jedes der großen Themen erfährt kon-
stante Selbstvariation, verschiebt sich kontinuierlich im Lauf seiner
Durchführung.
Die Pointe der thematischen Kompositionsbetrachtung besteht nicht
14 Otis (1970), Conclusion to Ovid, S. 310.
15 Otis (1970), Conclusion to Ovid, S. 327.
16 Vgl. Wehnert (1966), Thema und Motiv, Sp. 308-310.
 
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