300 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
Konstruktion von Vergangenheit als Raum des Politischen:
Europa und das ‘historische Imaginäre’
Sprecherin: Kirsten Mahlke.
Kollegialen: Frank Bezner1, Kirsten Mahlke2.
Mitarbeiter: Matthias Schöning2, Stefan Seidendorf3.
1 Universität Tübingen
2 Universität Konstanz
3 Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Kulturelle Grundlagen Europas? Oder: die Frage als Denkfigur
Als die Heidelberger Akademie im November 2003 die Frage nach „kulturellen Grund-
lagen Europas“ stellte (und diskutieren ließ), erwies sich eine dieser Grundlagen als
erstaunlich präsent und abwesend zugleich. Denn gleich, ob man die kulturellen
Wurzeln des supranationalen Gebildes der EU in der „lateinischen Christenheit“,
der „Tradition von Hermeneutik und Kommentar“, der „Entwicklung autonomer
Staatlichkeit“ oder einem spezifischen „Freiheitsbegriff1 verwirklicht sah; und
gleich, ob man derartige Grundlagen in einen fundierenden, entwicklungslogischen,
genealogischen, altentätsbetonenden Bezug zur EU stellte (oder aus ihnen gar
Erwartungen für die Zukunft ableitete): alle diese spezifischen ,Fundamente’ stehen
unter einer gemeinsamen Perspektive; unterliegen einer Dynamik, deren schiere
Selbstverständlichkeit diese pervasive Präsenz ebenso zu maskieren droht wie ihre
fundierende Bedeutung für die Frage nach kulturellen Grundlagen an sich:
Europas Kultur entsteht aus Europas Geschichte. Kulturelle Grundlagen sind
historische Grundlagen. Die Vergangenheit Europas avanciert zum zentralen Deutungs-
horizont, ja Deutungsraum der kulturellen Dimension Europas.
Eben dies — die Konstruktion von Vergangenheit — ist indes selbst em (alles
andere als selbstverständlicher) Aspekt Europas und seiner Entwicklung zur europäi-
schen Einigung: eine kulturelle Grundlage, die sich weder historisch noch systema-
tisch allzu einfach auf einen Nenner bringen läßt — noch im Hinblick auf die For-
schungsfelder, die sie generierte.
So zieht sich die Konstruktion von Vergangenheit durch die europäische
Geschichte, und zeigt sich (um mehr Beispiele zu verschweigen als zu nennen):
— in den griechischen Mythen als identitätsstiftendem ‘Raum’ der Polisgemein-
schaft oder den Erinnerungslandschaften des Forum Romanum,
— in der Vorstellung einer (in der Gegenwart verwirklichten) kontinuierlichen trans-
latio imperii zur Begründung mittelalterlicher Herrschaft,
— in mythischer und ‘historischer’ Legitimation und Delegitimation territorialer
Macht und dynastischer Legitimität bzw. Sukzessionalität in Spätmittelalter und
Früher Neuzeit,
— im revolutionären Geschichtsmodell der Französischen Revolution,
Konstruktion von Vergangenheit als Raum des Politischen:
Europa und das ‘historische Imaginäre’
Sprecherin: Kirsten Mahlke.
Kollegialen: Frank Bezner1, Kirsten Mahlke2.
Mitarbeiter: Matthias Schöning2, Stefan Seidendorf3.
1 Universität Tübingen
2 Universität Konstanz
3 Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Kulturelle Grundlagen Europas? Oder: die Frage als Denkfigur
Als die Heidelberger Akademie im November 2003 die Frage nach „kulturellen Grund-
lagen Europas“ stellte (und diskutieren ließ), erwies sich eine dieser Grundlagen als
erstaunlich präsent und abwesend zugleich. Denn gleich, ob man die kulturellen
Wurzeln des supranationalen Gebildes der EU in der „lateinischen Christenheit“,
der „Tradition von Hermeneutik und Kommentar“, der „Entwicklung autonomer
Staatlichkeit“ oder einem spezifischen „Freiheitsbegriff1 verwirklicht sah; und
gleich, ob man derartige Grundlagen in einen fundierenden, entwicklungslogischen,
genealogischen, altentätsbetonenden Bezug zur EU stellte (oder aus ihnen gar
Erwartungen für die Zukunft ableitete): alle diese spezifischen ,Fundamente’ stehen
unter einer gemeinsamen Perspektive; unterliegen einer Dynamik, deren schiere
Selbstverständlichkeit diese pervasive Präsenz ebenso zu maskieren droht wie ihre
fundierende Bedeutung für die Frage nach kulturellen Grundlagen an sich:
Europas Kultur entsteht aus Europas Geschichte. Kulturelle Grundlagen sind
historische Grundlagen. Die Vergangenheit Europas avanciert zum zentralen Deutungs-
horizont, ja Deutungsraum der kulturellen Dimension Europas.
Eben dies — die Konstruktion von Vergangenheit — ist indes selbst em (alles
andere als selbstverständlicher) Aspekt Europas und seiner Entwicklung zur europäi-
schen Einigung: eine kulturelle Grundlage, die sich weder historisch noch systema-
tisch allzu einfach auf einen Nenner bringen läßt — noch im Hinblick auf die For-
schungsfelder, die sie generierte.
So zieht sich die Konstruktion von Vergangenheit durch die europäische
Geschichte, und zeigt sich (um mehr Beispiele zu verschweigen als zu nennen):
— in den griechischen Mythen als identitätsstiftendem ‘Raum’ der Polisgemein-
schaft oder den Erinnerungslandschaften des Forum Romanum,
— in der Vorstellung einer (in der Gegenwart verwirklichten) kontinuierlichen trans-
latio imperii zur Begründung mittelalterlicher Herrschaft,
— in mythischer und ‘historischer’ Legitimation und Delegitimation territorialer
Macht und dynastischer Legitimität bzw. Sukzessionalität in Spätmittelalter und
Früher Neuzeit,
— im revolutionären Geschichtsmodell der Französischen Revolution,