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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Koch, Anton Friedrich: Die Macht der Antinomie und die normativen Grundlagen der Polis
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0108
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SITZUNGEN

moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“, zu dem die Katholische Akade-
mie in Bayern im Januar 2004 Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger eingeladen
hatte.
Als vorpolitische Grundlagen des Staates bieten sich prima facie religiöse und
metaphysische Rechtfertigungen an, beide mit universalistischem Anspruch. Wenn
man aber zwischen Polis und Staat, z.B. zwischen Frankreich und seinen Republi-
ken und Reichen, angemessen unterscheidet, so wäre auch nach den vorstaatlichen
politischen Grundlagen des demokratischen Staates zu fragen. Ein Royalist etwa
könnte für die älteste Tochter der römischen Kirche eine konstitutionelle Monarchie
auf christlicher Grundlage fordern, ein Gaullist die Verfassung der fünften Republik
aus rationalistischer Metaphysik zu rechtfertigen versuchen und ein Europaskeptiker
aus der Überlagerung gallischer, römischer und fränkischer Elemente ein Alleinstel-
lungsmerkmal für Frankreich ableiten, das vor der Erosion im europäischen Eini-
gungsprozeß zu schützen sei. Der Royalist und der Gaullist würden vorpolitische,
dem Anspruch nach universale, der Europaskeptiker politische, für Frankreich spezi-
fische, alle aber vorstaatliche Grundlagen in Anspruch nehmen, um Aspekte ihrer
bevorzugten Staatsform zu legitimieren.
Im Unterschied dazu versteht sich der politische Liberalismus, den Habermas
verteidigt, „als eine nichtreligiöse und nachmetaphysische Rechtfertigung der nor-
mativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates“ (Dialektik der Säkulari-
sierung, fortan: DS, S. 18). Die Wortwahl „nichtreligiös und nachmetaphysisch“ läßt
erkennen, daß Habermas zwar die Metaphysik, nicht aber die Religion für obsolet
hält. Darauf wird am Ende zurückzukommen sein. Vorderhand ist noch hinzuzu-
fügen, daß er auch die dritte der genannten Quellen möglicher Rechtfertigung,
die (im umrissenen Sinn) politische, nicht in Anspruch nehmen will. Nicht nur Reli-
gion und Metaphysik, sondern auch eine „substantielle Volkssouveränität“ eignet
sich seines Erachtens nicht zur Rechtfertigung des demokratischen Staates:
Eine „konstituierte“ [...] Staatsgewalt ist bis in ihren innersten Kern hinein
verrechtlicht, so dass das Recht die politische Gewalt ohne Rest durchdringt.
Während der im Kaiserreich wurzelnde Staatswillenspositivismus der deut-
schen Staatsrechtslehre [...] noch ein Schlupfloch für eine rechtsfreie sittliche
Substanz „des Staates“ oder „des Politischen“ gelassen hatte, gibt es im Ver-
fassungsstaat kein Herrschaftssubjekt, das von einer vorrechtlichen Substanz
zehrte. Von der vorkonstitutionellen Fürstensouveränität bleibt keine Leerstelle
übrig, die nun — in Gestalt des Ethos eines mehr oder weniger homogenen
Volkes — durch eine ebenso substantielle Volkssouveränität ausgefüllt werden
müsste. (DS 20)
Die Absage an die „substantielle Volkssouveränität“ ist eine Absage an die Polis als
eine fixierbare Substanz, die im Wechsel ihrer Reiche und Republiken beharrt.
Inwiefern dies zutrifft und inwiefern dennoch ein — nicht isolierbarer — Rest des
Politischen bleibt, der sich der Verrechtlichung entzieht, wird zu prüfen sein.
Zunächst aber: audiatur et altera pars. Joseph Ratzinger kommt dem sich reli-
giös unmusikalisch gebenden Gesprächspartner entgegen, indem er nur verhalten die
 
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