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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Koch, Anton Friedrich: Die Macht der Antinomie und die normativen Grundlagen der Polis
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0112
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128

SITZUNGEN

Gehen wir zum Schluß, mit diesen Ergebnissen vor Augen, noch einmal die
Positionen auf unserer Liste durch.
1. Der Kontextualismus beharrt auf einem eigenen Kern jeder Polis, der sich
der Verrechtlichung nach universalen, vernünftigen Prozeduren entziehen soll. Der
Perspektivismus, der sich darin ausspricht, wird durch die Subjektivitätsthese zwar
bestätigt, nicht jedoch die Meinung, es gebe einen isolierbaren ethnischen Restbe-
stand der Polis, vor dem der demokratische Prozeß Halt machen müsse. Schlechte
Metaphysik versucht, der Physik einen umgrenzten Bereich des Realen, und
schlechte Praxis, dem demokratischen Prozeß einen umgrenzten Bereich der Polis
vorzuenthalten. Im zweiten Fall steht zu befurchten, daß im Namen Gottes, des
Volkes, des Landes usw. partikuläre Interessen verfolgt werden. Und die Antinomie-
these weist, indem sie die Macht der Antinomie akzentuiert, zwar auf die logische
Quelle des Vernunftdefätismus, rechtfertigt ihn aber keineswegs, sondern zeigt nur,
daß das Leben der Vernunft nicht mühelos ist und dem logischen Tod ständig neu
abgerungen werden muß.
2. Auch der Rechtspositivismus läßt sich in seiner Motivation nun besser ver-
stehen: als ein Defätismus der Begründung in vermeintlich aussichtsloser Begrün-
dungslage. Im Theoretischen entspräche ihm die Haltung dessen, der auf weitere
Naturforschung verzichtet, weil eine physikalische Weltformel nicht zu haben ist.
3. Der Rechtshegelianismus kann am ehesten als das zuvor schon erwähnte
Pendant schlechter Metaphysik im Praktischen und als Versuch der Legitimation
schlechter, undemokratischer Praxis verstanden werden.
4. Der Linkshegelianismus ist anfällig für die Pathologien der Vernunft, vor
denen Joseph Ratzinger warnt. Die Vernunft als solche geht aufs Ganze und Unbe-
dingte. Wenn sie sich nicht (eingedenk der Faktizität der Antinomie) zügelt, wird sie
in Theorie und Praxis totalitär; in der Theorie insofern, als sie meint, eine wie auch
immer geartete — physikalische oder metaphysische — Weltformel erreichen zu kön-
nen oder erreicht zu haben; in der Praxis insofern, als sie meint, eine praktisch-poli-
tische Weltformel zu kennen und die Verfassung des idealen Vernunftstaates schreiben
und durchsetzen zu können. Letzteres ist Totalitarismus im üblichen Wortsinn, der
sich als Schreckensherrschaft verwirklicht.
5. Habermas emanzipiert sich von der linkshegelianischen Tradition weniger
durch theoretische Einsicht (etwa in die Antinomie- und die Subjektivitätsthese) als
durch praktische Klugheit, indem er sich weigert, bestimmte, den Totalitarismus oder
die Metaphysik begünstigende Konsequenzen seines Ansatzes zu ziehen, und lieber
Anleihen bei anderen Positionen, auch solchen der Kirche macht, die in seiner Lehre
Fremdkörper bleiben mögen, aber ihren Auftritt zieren. Er leiht sich, nach seiner
Weise zu reden, die Phronesis nur aus, um seiner ursprünglich linkshegelianischen
Position einen abgeklärt liberalen Anstrich zu geben.
6. Der Papst in seiner vormaligen Rolle als Theologe und Intellektueller
kommt den Lehren aus der Antinomie- und der Subjektivitätsthese recht nahe. Aber
man darf vermuten, daß er außerhalb des profanen Dialogs mit größerer Bestimmt-
heit sprechen und zentralen Glaubenslehren eine Stellung zuerkennen würde, an der
keine vernünftige Debatte zu rütteln vermag. In profanem Kontext kann er sich aber
 
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