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NACHRUFE
widersprach M. Hengel in allen Punkten — und hat in fast allen Punkten Anerken-
nung gefunden: Sechs Mal erhielt er die Ehrendoktorwürde in Uppsala (1979),
St. Andrews (1981), Durham (1985), Strasbourg (1988), Cambridge (1989), Dublin
(2000). Er war korrespondierendes Mitglied der British Academy (seit 1975) und der
Königlichen Niederländischen Akademie (seit 1999). Und damit sind nicht alle
Ehrungen aufgezählt.
Dennoch sah er sich lange als Einzelkämpfer gegen eine Mehrheit des Faches.
Grund dafür war, dass in den 60er und 70er Jahren die wichtigsten deutschsprachi-
gen Lehrstühle im Fach Neues Testament von Vertretern der Marburger Schule R.
Bultmanns besetzt waren, die für die Modernisierung des Christentums durch Aus-
legung des Neuen Testaments einen Alleinvertretungsanspruch erhoben. M. Hengel
galt ihnen als ein Konservativer, tief verwurzelt im schwäbischen Pietismus. Doch
gerade er stellte eine große Forschungstradition wieder her. Obwohl er meinte,
gegen den „Zeitgeist“ zu denken, war er dabei sehr viel mehr in eine allgemeine
Umorientierung eingebettet, als ihm bewusst war: Der theologische Existenzialismus
hatte historische Neugier oft als Verstoß gegen ein „Marburger kerygmatheologi-
sches Reinheitsgebot“ betrachtet, wonach das Wort Gottes nicht in der Geschichte
wirkt, sondern nur die „Geschichtlichkeit“ der je eigenen „Existenz“ bestimmt. Es
bleibt „rein“ von der realen Geschichte. Als sich eine neue Generation wieder die-
ser „realen“ Geschichte zuwandte, wirkte ihr Interesse für Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft wie ein Säkularisierungsschub. Für M. Hengel war diese Zuwendung
zur Geschichte dagegen Ausdruck einer tiefen Frömmigkeit. Denn für ihn gab es
mitten in der Geschichte eine „Heilsgeschichte“. Ihr mit historischen Mitteln nach-
zuspüren, auch wenn sie sich nur dem Glauben erschließt, betrachtete er als seine
Lebensaufgabe. Diese Zuwendung zur Geschichte und zu der einen entscheidenden
„Heilsgeschichte“ in ihr ist tief in seiner Biographie begründet.
M. Hengel wurde 1926 in Reutlingen in einer mittelständischen schwäbischen
Unternehmerfamilie geboren. Der 16jährige wollte Chemie studieren. Der Krieg,
an dem er 1943—45 tcilnehmen musste, hinterließ ein Trümmerfeld, in dem er sich
fragte: Was hat wirklich Bestand? Mit dieser Frage studierte er nach seinem Abitur
1946 Theologie in Tübingen und Heidelberg und entdeckte dabei seine Liebe zur
wissenschaftlichen Auslegung der Bibel. Sein Vater hätte ihn gerne für seinen Textil-
betrieb gewonnen. SeineVikarszeit in Heilbronn 1951—52 ließ M. Hengel noch ein-
mal schwanken, ob er sich nicht besser mit Seelsorge und Psychotherapie beschäfti-
gen sollte als mit alten Texten. Doch zunächst musste er ohnehin 1953 als Verkaufs-
leiter in der elterlichen Textilfirma fast zwei Jahre lang arbeiten, erst danach konnte
er von 1954—57 am Tübinger Stift und an der dortigen Fakultät an einer Überset-
zung des „Jüdischen Kriegs“ von Flavius Josephus arbeiten und seine Promotionsar-
beit über die jüdische Freiheitsbewegung im 1. Jh. n.Chr. schreiben. Diese Arbeit
musste er unterbrechen, weil er 1957—1964 dringend als Geschäftsführer in seinem
Familienunternehmen gebraucht wurde. Trotzdem brachte er es fertig, 1959 seine
Promotion abzuschließen. Eine schwere gesundheitliche Krise gab ihm endlich die
Freiheit, sich ganz der Wissenschaft zuzuwenden. Er habilitierte sich 1967 in Tübin-
gen, erhielt 1968 einen Ruf an die Universität Erlangen, kehrte 1972 an seine Hei-
NACHRUFE
widersprach M. Hengel in allen Punkten — und hat in fast allen Punkten Anerken-
nung gefunden: Sechs Mal erhielt er die Ehrendoktorwürde in Uppsala (1979),
St. Andrews (1981), Durham (1985), Strasbourg (1988), Cambridge (1989), Dublin
(2000). Er war korrespondierendes Mitglied der British Academy (seit 1975) und der
Königlichen Niederländischen Akademie (seit 1999). Und damit sind nicht alle
Ehrungen aufgezählt.
Dennoch sah er sich lange als Einzelkämpfer gegen eine Mehrheit des Faches.
Grund dafür war, dass in den 60er und 70er Jahren die wichtigsten deutschsprachi-
gen Lehrstühle im Fach Neues Testament von Vertretern der Marburger Schule R.
Bultmanns besetzt waren, die für die Modernisierung des Christentums durch Aus-
legung des Neuen Testaments einen Alleinvertretungsanspruch erhoben. M. Hengel
galt ihnen als ein Konservativer, tief verwurzelt im schwäbischen Pietismus. Doch
gerade er stellte eine große Forschungstradition wieder her. Obwohl er meinte,
gegen den „Zeitgeist“ zu denken, war er dabei sehr viel mehr in eine allgemeine
Umorientierung eingebettet, als ihm bewusst war: Der theologische Existenzialismus
hatte historische Neugier oft als Verstoß gegen ein „Marburger kerygmatheologi-
sches Reinheitsgebot“ betrachtet, wonach das Wort Gottes nicht in der Geschichte
wirkt, sondern nur die „Geschichtlichkeit“ der je eigenen „Existenz“ bestimmt. Es
bleibt „rein“ von der realen Geschichte. Als sich eine neue Generation wieder die-
ser „realen“ Geschichte zuwandte, wirkte ihr Interesse für Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft wie ein Säkularisierungsschub. Für M. Hengel war diese Zuwendung
zur Geschichte dagegen Ausdruck einer tiefen Frömmigkeit. Denn für ihn gab es
mitten in der Geschichte eine „Heilsgeschichte“. Ihr mit historischen Mitteln nach-
zuspüren, auch wenn sie sich nur dem Glauben erschließt, betrachtete er als seine
Lebensaufgabe. Diese Zuwendung zur Geschichte und zu der einen entscheidenden
„Heilsgeschichte“ in ihr ist tief in seiner Biographie begründet.
M. Hengel wurde 1926 in Reutlingen in einer mittelständischen schwäbischen
Unternehmerfamilie geboren. Der 16jährige wollte Chemie studieren. Der Krieg,
an dem er 1943—45 tcilnehmen musste, hinterließ ein Trümmerfeld, in dem er sich
fragte: Was hat wirklich Bestand? Mit dieser Frage studierte er nach seinem Abitur
1946 Theologie in Tübingen und Heidelberg und entdeckte dabei seine Liebe zur
wissenschaftlichen Auslegung der Bibel. Sein Vater hätte ihn gerne für seinen Textil-
betrieb gewonnen. SeineVikarszeit in Heilbronn 1951—52 ließ M. Hengel noch ein-
mal schwanken, ob er sich nicht besser mit Seelsorge und Psychotherapie beschäfti-
gen sollte als mit alten Texten. Doch zunächst musste er ohnehin 1953 als Verkaufs-
leiter in der elterlichen Textilfirma fast zwei Jahre lang arbeiten, erst danach konnte
er von 1954—57 am Tübinger Stift und an der dortigen Fakultät an einer Überset-
zung des „Jüdischen Kriegs“ von Flavius Josephus arbeiten und seine Promotionsar-
beit über die jüdische Freiheitsbewegung im 1. Jh. n.Chr. schreiben. Diese Arbeit
musste er unterbrechen, weil er 1957—1964 dringend als Geschäftsführer in seinem
Familienunternehmen gebraucht wurde. Trotzdem brachte er es fertig, 1959 seine
Promotion abzuschließen. Eine schwere gesundheitliche Krise gab ihm endlich die
Freiheit, sich ganz der Wissenschaft zuzuwenden. Er habilitierte sich 1967 in Tübin-
gen, erhielt 1968 einen Ruf an die Universität Erlangen, kehrte 1972 an seine Hei-